Oktober 9, 2024

Potzblitz – Karl-Heinz Podzielny – Ein Nachruf von FM Dirk Paulsen

Genau in diesem Moment öffne ich mir ein Bier, stelle ein Bierglas bereit und fülle dieses Glas auf, mit einer schönen Krone. Und gehe in mich. Der Moment gehört ihm, die Gedanken gehören ihm, das Bier trinke ich für ihn, auf sein „Wohl“, so, wie wir es x-Mal gemeinsam taten.

Um dies gleich mal vorwegzunehmen: falls es jemanden gibt, auf den die Bezeichnung „schon zu Lebzeiten eine Legende“ zutrifft, dann auf ihn. Kaum vorstellbar, dass es einen einzigen Club in Deutschland gibt, in dem nicht hier und da mal über ihn erzählt wurde. Und versichert sei auch: es findet sich in praktisch jedem Schachclub einer, der ihn kannte oder zumindest Geschichten über ihn hätte erzählen können. Und wenn man ihn nur am Rande eines Turniers mal erlebt hätte.

Karl-Heinz Podzielny. Ja, das war ein Typ, das war ein Name, das hatte Klang, ihn kannte jeder, wie im abgewandelten Kinderreim: „Ich heiße Kalle, mich kennse alle.“ Aber er nannte sich nicht Kalle und niemand nannte ihn so. Selten gab es einen Spitznamen, der so treffend und passend war wie seiner: Potzblitz. Das passte wie Faust auf Auge oder wie A… auf Eimer. Er war es, Potzblitz, einer der schnellsten, einer der besten, und mit Sicherheit einer der begabtesten Blitzschachspieler, die je unter deutscher Sonne geboren wurden – und vielleicht sogar auf lange Zeit werden. Selbst wenn es bessere gibt, erfolgreichere wäre der geeignete Begriff, denn vom Talent her kann es nur wenige geben, die es mit ihm, mit Potzblitz, hätten aufnehmen können.

Was hat er nun mit seinem Talent angefangen? Es waren andere Zeiten, in denen er aufwuchs. Es gab kaum Aufmerksamkeit für die großen Talente, es gab keine Trainer – und es gab weder Rauch- noch Alkoholverbot, weder vor noch nach, aber auch nicht während der Turniere. Dieses nutzte Karl-Heinz – wie ich ihn nun doch nenne aber auch bei unseren persönlichen Begegnungen ansprach – weidlich aus. Wobei es genau das sein könnte, was der Entfaltung seines Talents entscheidend im Wege stand?

Eines muss ich hier unbedingt unterbringen, in dieser Art Nachruf oder auch Laudatio auf ihn: könnte man den Begriff „Straßenfußballer“ auf das Schachspiel übertragen – niemand hätte diese Bezeichnung mehr verdient als er. Und dies ist kein bisschen despektierlich gemeint. Wie könnten die Namen Pierre Littbarski, Mehmet Scholl oder „Icke“ Hässler je negative Assoziationen auslösen? Es hat etwas Ursprüngliches, aber zugleich etwas Magisches, etwas Faszinierendes, etwas Außergewöhnliches, etwas Einzigartiges.

IM Karl-Heinz Podzielny

Den Vergleich mit dem Berliner Original Werner Reichenbach kann er locker aufnehmen, nicht nur in dieser Hinsicht. Auch Werner hatte ein außergewöhnliches Talent und hat dieses zu einem Gutteil in den Alkohol „vergeudet“.

Nun, wenn man von „vergeudet“ spricht wird man vielleicht dem nicht einmal ganz gerecht. Sie haben es sich so ausgesucht und sie haben trotz des reichlichen Konsums ja eine beachtliche Klinge geschlagen – und sie konnten damit sogar Werbung machen. Denkbar wäre sogar, dass ihre Talente erst auf diese Art zur vollen Entfaltung kamen? Es gehörte einfach zusammen. Ein paar Bier und noch viel mehr tolle Züge.

Wenn Karl-Heinz mit seiner imposanten Erscheinung den Raum betrat, dann hatten die anderen Sendepause. Das war sein Auftritt, hier war er der Chef, hier war er der König, hier war sein Revier. Was immer das ausmachte, er hatte es einfach. Es lag nicht allein an der erhöhten Lautstärke, mit welcher er meist sprach. Er hatte etwas zu erzählen und er hatte diese Ausstrahlung, dass es sich lohnte, nun die Lauscher zu spitzen und gebannt auf die nächste Geschichte zu warten.

Dabei – dies sie hier ausdrücklich betont – erschien es einem als Zuhörer nicht unbedingt wichtig, vergleichbar mit einem gutem Romanautoren, wo man sich weniger um Authentizität als um Unterhaltungswert kümmerte, inwieweit diese Geschichten nun mit realen Erlebnissen im Einklang stünden. Er konnte sie erzählen, er fing seine Zuhörer ein – und er konnte sie gut mit Bildern untermauern.

Benefiz-Turnier des Ev. Kinderheim Herne 2012

Was wären nun diese Bilder gewesen? Nun, als Schachspieler bestanden diese Bilder aus Partien, aus Kombinationen, aus Stellungsbildern, aus tollen Ideen – und all diese auf dem Schachbrett dargestellt. Und dies waren seine Bilder, mit denen er die Geschichten ausschmücken konnte. Aber, falls man nicht daran teilhaben konnte oder wollte musste man nur auf eine von ihm gespielte Partie warten und sich unter den Zuschauern einreihen: hier konnte man immer ein Spektakel erwarten, hier konnte er seine wahren Talente zur vollen Entfaltung bringen. Kaum je, dass er lange nachdenken musste oder wollte, kaum je, dass er den Zug nicht traf, kaum je, dass man den Mund zubekam.

Nur um diese Vorerzählungen in einer kleinen Anekdote zu vereinen und anschaulich zu machen: wir spielten gemeinsam in Maintal 1979. Dann gab es das übliche Blitzturnier, etwa zur Turniermitte. Potzblitz war natürlich dabei, keine Frage, selbst wenn schon zwei Turnierpartien an dem Tag gespielt waren. Hier war seine Bühne. Das Turnier war nun auf keinen Fall schwach besetzt, eher im Gegenteil. Es war monströs – für damalige Verhältnisse.

Die Vorrunde war natürlich kein Problem, falls man sich Sorgen um ihn hätte machen können, dann wäre es der Bierkonsum gewesen. Kaum eine Runde verstrich, in welcher er nicht erneut zur Theke ging und sich einen weiteren Halben holte. Am Ende stand ein überlegener erster Platz, vor einigen Titelträgern, nach 15 schweren Runden.

Und die Geschichte, die er dazu erzählte, war die: „Jede Runde ein Bier.“ Man hätte hinzufügen können: pro Bier ein Punkt. Nun, wer aufmerksam gezählt hätte, wäre vermutlich nur auf neun Halbe gekommen – das mit den Punkten ging aber fast genau auf. Aber auch diese neun Halben hätten einem jedem anderen „dahergelaufenen“ Schachspieler ausgereicht, dass er sich in den letzten Runden nur noch unterm Tisch gefunden hätte – und am Tabellenende, aber dies erst den Erzählungen vom nächsten Tag entnommen. Karl-Heinz konnte nicht nur das gute Preisgeld einheimsen, sondern im Anschluss auch noch fragen: „Wo gehen wir jetzt hin? Ich hätte noch etwas Durst und schmeiße ne Runde.“

Benefiz-Turnier des Ev. Kinderheim Herne 2013

Falls sich jemand hier oder da um ihn Sorgen gemacht hätte – und ich hatte durchaus einige derartige Begegnungen – und sich fragte, wie er zur morgendlichen Runde aus dem Bett käme, dann wurde man jedes Mal eines Besseren belehrt: zur Runde spielbereit, den Punkt vermutlich eingefahren, danach ein kleines Saufgelage. Das passt schon so.

Keine Frage: er war ein streitbarer Geist zugleich. Dies hatte nicht nur mit dem Alkoholkonsum zu tun. Er nahm einfach kein Blatt vor den Mund und falls er sich irgendwo ungerecht behandelt fühlte, konnte er nicht nur laut werden, nein, er wurde sehr, sehr laut. In diesen Momenten schlich man sich lieber davon. Sicher hätte er erwartet, dass man sich auf seine Seite schlägt, egal, wie ausgeprägt er sich im Recht befand. Und man hätte nur um die Freundschaft fürchten müssen, welche er einem dann auch recht schnell hätte kündigen können. Entweder zustimmen oder Feind werden. Weder dies noch dies wollte man oder konnte man. Lieber auf einen neuen Tag warten und ihn freundlich/freudig begrüßen. Man wollte ihn im Freundeskreis haben – und nicht im Gegenteil davon.

Legendär ein Blitzmatch, welches ich zu großen Teilen mit eigenen Augen verfolgen konnte. Warum nur zu großen Teilen? Dies war keineswegs Folge eines abnehmenden Interesses. Es war die Folge davon, dass es sich über Tage und Nächte hinzog. Wann auch immer die beiden Kontrahenten ihre Pausen eingelegt haben mögen: man selbst MUSST einfach hier und da mal an der Matratze horchen, wenigstens für ein paar Stunden.

Welches waren nun die Kontrahenten? Es war der ebenfalls legendäre georgische Großmeister Roman Dzindzichashvili auf der einen Seite – und natürlich der Mittelpunkt dieser Erzählungen auf der anderen.

Heute würde ich so sagen: sie hätten Eintritt verlangen müssen und ein jeder Schachliebhaber hätte sich dies eine Stange Geld kosten lassen müssen, um dem Spektakel beizuwohnen. Sie hätten es im weltweiten Netz übertragen können und hätten eigentlich alle Rekorde an Einschaltquoten brechen müssen, mit Peter Svidler oder gar Magnus Carlsen als begeistertem Kommentatoren. Nur waren es andere Zeiten, Ende der 70er oder Anfang der 80er Jahre, als das Match stattfand, hier in Berlin, im ebenso legendären Billardsalon am Tauentzien. Und wie waren die Zeiten? Die beiden boten jedem Anwesenden das gleiche Spektakel. Nur bekämpften sie sich gegenseitig. Um zwei Mark pro Partie, mit Kontra und Re.

Roman Dzindzichashvili war Großmeister, Karl-Heinz noch ganz ohne Titel, der GM hatte über 2600 Elo (Weltkl

Roman Dzindzichashvili, etwa zu der Zeit des Bliitzduells

asse zu der Zeit!), Potzblitz kaum 2400. Also gab der Großmeister eine Minute vor. Aber nicht etwa fünf gegen sechs oder vier gegen fünf, nein, sie spielten tage- und nächtelang zwei gegen drei Minuten!

Und was sie da für ein Feuerwerk abbrannten! Das war einfach nur unglaublich. Ich glaube nicht, dass einer am Ende die Nase vorne hätte (Karl-Heinz hätte sicher behauptet, er wäre es gewesen, und wer möchte ihm widersprechen?), es war ein Duell auf Augenhöhe. Nur noch einmal zur Erinnerung: es war ein Weltklassespieler, der noch dazu im Blitzschach überragende Fähigkeiten hatte, welchem er die Stirn bot – und es war nicht zu erkennen, dass er irgendwie „vorgeführt“ wurde. Im Gegenteil. Es war Augenhöhe. Man hatte sogar den Eindruck, dass die extra Minute gar kein wirklicher Vorteil war. Denn man bedenke: beide sitzen genau die gleiche Zeit am Brett und können diese identische Zeit zum Nachdenken nutzen.

Ich ging also täglich dort vorbei – und die beiden spielten. Aber selbst dem Autoren hier sei ein wenig dichterische Freiheit zugestanden? Es war beeindruckend. Punkt. Ich wünschte, die eine Partie, welche mir den größten Eindruck gemacht hatte, hätte jemand aufgezeichnet und ich könnte sie hier wiedergeben. Es war in etwa so, dass der GM zwar die Dame gewann, aber Potzblitz so viel Material und Gegenspiel dafür erhielt, dass er klar auf der Siegerstraße schien. Nur zeigte der Großmeister gerade in der Phase das Maximum seines Talents: er entfachte einen Mattangriff, allein mit dieser Dame und ein paar Bauern, welche diesen unterstützten und nach Belieben ins Geschäft gesteckt wurden, um den König freizulegen – und dies sogar mit Erfolg! Allein die Züge selbst hätten schon das Format, dass man sie hätte aufzeichnen müssen und auf einem Schachbrett wiedergeben können — begleitet von Zunge schnalzen, Augen aufreißen und Beifall raunen –, nein, man hätte dazu die Mimik und Gestik sehen müssen, und vor allem die Geschwindigkeit, in welcher diese Züge aufs Brett gezaubert wurden. Wer fragt nach dem Ausgang? Ich denke, es endete mit Dauerschach…

Nein, Karl-Heinz, ich kann nicht anders, als dich irgendwie als echten Freund empfunden zu haben, wie auch immer es dazu kam. Es war sicher ein wenig Respekt, gegenseitiger? Denn immerhin kam mir als einem der Wenigen die Ehre zuteil, dass DU MIR vor einer direkten Begegnung ein Remis angeboten hast. Nicht etwa, dass ich nicht gewusst hätte, dass du trotz meiner ordentlichen Spielstärke damals noch immer Favorit gewesen wärest. Dennoch ist mir auch unsere Bundesligapartie in Erinnerung, in welcher deine Dame auf Abwege geriet und sie meinen leichteren Figuren zum Opfer fiel – begleitet von der Aufgabe.

Benefiz-Turnier des Ev. Kinderheim Herne 2014

Schließen möchte ich unter keinen Umständen mit dieser Art der Selbstbeweihräucherung: dieser Artikel hier gebührt allein dir. Du warst einer der Allergrößten und nur temporäre Anstand gebietet es mir, nicht zu sagen „der Allergrößte“. Denn das erinnerte mich erneut an Reinhard Mey und sein Lied „Mein Testament“, in welchem folgende Zeilen vorkommen:

Eines freut mich doch, wenn ich heut sterbe, ungeniert
Hab ich meine Widersacher doch noch einmal angeschmiert
Denn ich hör die Lästermäuler Beileid heucheln und sogar
Murmeln dass ich stets der Liebste, Größte, Allerbeste war
Euch ihr Schleimer hinterlass ich frohen Herzens den Genuss
Dass man von dem frisch Verstorbnen immer Gutes sagen muss.

Nein, ich habe es NICHT deshalb getan. Und ich hab es ja nicht einmal gesagt…

Das „RIP“, welches ich verschiedentlich gelesen habe, verursacht bei mir eher Augenkrebs, wie es meine Kinder immer so schön sagen, wenn sie etwas einfach nicht ansehen können, ertragen können. Das ist hässlich und herzlos und warum würde man, gerade zu einem solchen Anlass, eine Abkürzung verwenden? Du warst mir enorm wertvoll. Deshalb kürze ich mal ab, was ich dir noch zu sagen hätte… Schließlich habe ich auch noch andere Dinge zu tun…

Benefiz-Turnier des Ev. Kinderheim Herne 2004

Nein, ich wünschte mir, ich hätte dein Talent gehabt. Obwohl: du hast schon eine Menge aus deinem gemacht. Also lass dich nicht mehr stören und mach et jut. Vielleicht sieht man sich mal wieder?

Dirk Paulsen

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