April 20, 2024

Odnovorotnim im Airthings-Halbfinale

Ich kann mal wieder mein russisches Lieblingswort verwenden: Beide Halbfinales im Airthing Masters verliefen odnovorotnim, d.h. einseitig oder „Spiel auf ein Tor“. Wobei das so nicht stimmt: Mal gewann Weiß und mal Schwarz, aber nur zwei von vier Spielern konnten Partien gewinnen. Als Wetterbericht: der Wind blies stetig aus dem Kaukasus, und damit dem Franzosen und dem Russen voll ins Gesicht.

Das war vielleicht unerwartet, aber irgendwie auch logisch: Die beiden Spieler, die im Viertelfinale zwar nicht unbedingt souveräner aber verdienter gewannen, gewannen auch ihr Halbfinale. Bei Aronian, der zuvor auch mit Nakamura verkürzten Prozess machte, ist es offensichtlich der Fall. Radjabov musste dagegen tags zuvor gegen Nepomniachtchi armageddonisieren, hätte dieses Match aber durchaus früher beenden können. Dubov gewann vom Ergebnis her klar gegen Carlsen, aber eigentlich passte aus seiner Sicht 1/3 besser zum Verlauf der Partien am zweiten Tag als 2.5/3.

Ursachenforschung: Bei Radjabov-Dubov lag es daran, dass Dubov diesmal keine (zumindest ansatzweise) korrekte Komplikationen erzeugen konnte, sondern entweder gar keine oder inkorrekte. Bei Aronian-MVL lag es vor allem daran, dass der Franzose zweimal, 2020 und 2021, etwas zum zweiten Mal im Schachleben machte. Auch Aronian machte vor und nach dem Jahreswechsel etwas doppelt und wollte sich zweimal im Endspiel von einem Springer verabschieden – das erste Mal versehentlich und erfolgreich, das zweite Mal absichtlich und MVL nahm den Gaul nicht. Erfolgreich im Sinne von 1-0 (und er hatte Weiß) war er zweimal.

Aronian-MVL 3-1 und 2-1 begann damit, dass der Franzose ein Berliner Endspiel verlor – natürlich mit den weissen Figuren, mit Schwarz ist es nicht Teil seines Repertoires. Diverse Spieler, auch mit Elo 2750+, hatten zuvor versucht, den Franzosen in dieser Variante mit Schwarz zu besiegen – oder auch nicht wirklich, es gilt ja als Remiswaffe. Wer hatte es als zuvor einziger geschafft? Nicht Carlsen, nicht Nakamura, nicht Aronian, auch nicht einige andere – nur Anish Giri im Dezember 2015.

Das ist ihm selbst offenbar gar nicht aufgefallen, da er es auf Twitter nicht erwähnte – wobei er ansonsten gestern und heute fleissig twitscherte. Hatte er nicht mal als guten Vorsatz für ein neues Jahr u.a „tweet less“? Mein guter Vorsatz ist seit Jahren „keine guten Vorsätze, wird ja doch nichts“. Aber zurück zum Match:

Kurz und knapp zu den beiden anderen Weißpartien des Franzosen (die vierte hat nicht stattgefunden): Berliner Endspiel, Remis. Mit Weiß spielte Aronian immer 1.d4, daraus wurde am ersten Tag zweimal Freestyle (erst von ihm, dann vom Gegner), am zweiten Tag spielten sie dann auf den grünen Feldern – soll in Partien des Franzosen vorkommen. Zuerst war Aronian auch mit 1.d4 Sf6 2.Sf3 g6 3.Sc3!? d5 4.Lf4 usw. fast erfolgreich, aber er ließ seinen Gegner entwischen. Datenbank-Auszug nach Elo des Weißspielers sortiert übrigens Carlsen und dann zehnmal Aronian – MVL war also vorgewarnt.

Das Remis in der dritten Partie hatten wir bereits, damit musste MVL die vierte Partie mit Schwarz gewinnen und entschied sich für 1.d4 Sf6 2.Sf3 g6 3.c4 b6!?. Er bekam, was er wohl wollte: eine unorthodox-komplizierte Stellung, allerdings stand er schlechter und irgendwann ziemlich schlecht. Dann entkorkte Aronian 41.Dxc6 – gewinnt einen zweiten Bauern und kostet einen Springer wegen 41.-DxSf3+! 42.Kxf3 Sd4+ Gabelfrühstück am späten Nachmittag. Er konnte das aber verkraften – zum einen da er zuvor klar auf Gewinn stand, zum anderen da er nun mit dem König in die gegnerische Stellung eindringen konnte. Nach 52.-Kf7? stand er gar erneut auf Gewinn – nur mit 52.-Sd2 usw. konnte Schwarz den entstandenen weissen c-Freibauern kontrollieren. Ganz perfekt spielte Aronian danach nicht, aber gut genug dass MVL nach seinem eigenen 57.-Ke7 aufgab. Es war für Weiß Tablebase-gewonnen, aber nicht trivial – aber Remis oder Niederlage war ja aus französischer (und damit auch aus armenischer) Sicht dasselbe.

Am zweiten Tag erst Grünfeld, und Aronian überraschte seinen Gegner vielleicht mit 4.Lg5 – das hatte er zwar schon gespielt, aber zuletzt anno 2009. Es wurde Remis, Remis in der zweiten Partie hatten wir bereits. Dann dieselbe Grünfeld-Variante, MVL variierte im 6. Zug und vorläufig war die Welt für ihn in Ordnung, aber nur vorläufig. Schon bevor Schwarz einen Bauern einstellte stand er schlechter, danach auch. Aronian behandelte das Endspiel dann jedoch suboptimal, mehrfach konnte der Franzose definitiv entwischen. Aber im 79. Zug machte er dann den endgültig entscheidenden Fehler. Er hatte sich wohl auf 81.-e4 verlassen (eigener Freibauer), aber Aronian spielte einfach so 82.Sxe4! (82.-Kxe4 83.d6+ nebst d7-d8D). 82.-Ke5 half aber auch nicht, wobei MVL später noch etwas hoffen konnte: Kann Aronian mit Läufer und Springer mattsetzen? Das konnte er, jedenfalls die ersten Schritte und alles ließ sich MVL nicht zeigen.

Wieder das zweite Mal im Schachleben für ihn: Grünfeld hatte er über 200-mal auf dem Brett und ab und zu verlor er. Aber 4.Lg5 hatte er nur 15-mal, und nur eine Niederlage 2010 gegen Moiseenko, auf ähnliche und doch etwas andere Art und Weise. Ebenfalls ein Endspiel mit Minusbauer, aber diesen Bauern hatte er mit 4.-Lg7!? bewusst geopfert – Kompensation hatte er wie üblich, aber irgendwann dann nicht mehr. Und nachdem das der Fall war war Moiseenkos Endspielvortrag ziemlich souverän. Ist Moiseenko etwa besser als Aronian? Nicht unbedingt, vielleicht lag es auch an der damals bei der Europameisterschaft klassischen Zeitkontrolle.

Radjabov-Dubov 3-1 und 2-0: Die beiden Remisen zu Beginn des ersten Tages sind hiermit erwähnt, das waren dann die guten oder jedenfalls nicht schlechten Nachrichten aus Sicht von Daniil Dubov. In der dritten Partie spielte Radjabov (wieder) betont positionell, schnappte sich einen Bauern und schien auf der Siegerstraße. Dann kam ihm der Mehrbauer abhanden, und Remis schien fast unvermeidlich. Aber Dubov hatte schon gegen Carlsen gezeigt, dass er Remisendspiele verlieren kann – nun schaffte er es erneut.

In der vierten Partie Sveshnikov-Sizilianisch, auch wenn Dubov Weiß hatte. Mangels korrekter Opfer opferte der Russe im 23. Zug inkorrekt, aber Radjabov fand die an sich simple Widerlegung nicht. Warum hat Dubov danach trotzdem verloren? Wohl, weil er unbedingt gewinnen musste. Daher verschmähte er im 34. Zug eine Remisabwicklung und später noch ein Dauerschach, das Radjabov ihm in inzwischen für den Azeri gewonnener Stellung gönnte. Radjabovs Anteil: er wirbelte taktisch.

Tags darauf wollte Dubov mit 1.Sf3 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 d5 4.d4 Le7 (gepflegt-orthodoxes Damengambit, aber nun) 5.g4!??? mehr als Remis, und bekam weniger. Mit seinem wilden Konzept erlitt er Schiffbruch. Im Springerendspiel hatte er plötzlich wieder Remischancen, aber dann lief es wie in der (zuvor recht anderen) Partie des ersten Tages: doch der volle Punkt für Radjabov.

Die zweite Partie plätscherte zunächst eher dahin, bis Radjabov doch noch 30.d5 spielte (seit Ewigkeiten ein Kandidatenzug). Plötzlich sass die schwarze Dame auf e4 in der Falle, zumindest fast – nur mit erheblichen positionellen Zugeständnissen konnte Dubov sie in Sicherheit bringen. Später suchte er Gegenspiel bzw. fand es, aber es war unzureichend: der weisse König spazierte nach h4 und stand da sicher, im Gegensatz zum schwarzen – entblösst und ohne Figurenschutz.

Auch in diesem Match war damit vorzeitig Schluss. Wie geht es nun weiter? Mit dem Kaukasus-Finale Aronian-Radjabov und Spiel um Platz drei MVL-Dubov. Aronian ging davon aus, dass er gegen den Azeri einen guten bisherigen Score hat, das stimmt allenfalls bedingt: mit klassischer Bedenkzeit aus seiner Sicht 5-3 bei 21 Remisen, im Schnell- und Blitzschach 5-6 bei 7 Remisen. Die letzte Partie beim Skilling Open, erstes Turnier der laufenden Serie, gewann Radjabov glatt. Aronian hat offenbar ein gutes Langzeitgedächtnis und erinnert sich an zwei Doppelsiege anno 2013: zweimal im Kandidatenturnier, zweimal bei den Sport Accord World Mind Games. Zwischendurch trafen sie eher sporadisch aufeinander und spielten immer Remis.

Wenn Dubov und MVL die Anzahl ihrer bisherigen Partien verdoppeln wollen, müssen sie zunächst unentschieden spielen (oder jeder gewinnt ein Match) und dadurch auch blitzen. Bisher trafen sie zehnmal aufeinander: mit klassischer Bedenkzeit steht es unentschieden (vier Remisen), im Schnell- und Blitzschach drei Siege für MVL und drei Remisen. Bei den Siegen hatte er Heimspiel: 2019 gewann er bei der Grand Chess Tour in Paris alle drei Partien. Nun haben beide Heimspiel, mal sehen was dabei herauskommt.

Ich tippe auf Aronian und MVL, kann mich allerdings auch irren – wie immer, und dieses Mal erst recht.