April 16, 2024

Batumi ist doch nicht Porto Carras

Ein EM-Rückblick zunächst aus deutscher Sicht – Schwerpunkt Herren wobei man auch über die Damen VIEL schreiben könnte. Danach dann (wird ein separater Beitrag) auch über andere Teams bzw. das Turnier insgesamt – schließlich bekamen fünf andere Länder die insgesamt sechs Medaillen. Doppelt und doppelt golden belohnt wurde Russland, wobei es in beiden Fällen nicht ganz souverän war.

Endstand offenes Turnier: Russland 15, Ukraine und England 14, Armenien 13, Kroatien 12, Aserbaidschan, Spanien, Deutschland, Frankreich, Tschechische Republik 11, usw. . Bei Gleichstand nach Mannschaftspunkten entscheidet Olympiad-Sonneborn-Berger, eine Kombination aus wieviele Brettpunkte man erzielte und gegen wen. Russland war an eins gesetzt und gewann Gold. Die Ukraine – mit einer „Gelegenheits-Mannschaft“ diesmal nur an acht gesetzt – bekam Silber. England war an zwei gesetzt. Oft zählten sie bei Mannschaftswettbewerben zu den nominellen Favoriten und enttäuschten, diesmal eine Medaille.

Deutschland war an neun gesetzt und wurde Achter. Die Überschrift deutet bereits an, dass sie diesen Platz „von oben“ anpeilten und dass im Turnierverlauf mehr möglich war oder schien. Das Titelbild stammt aus Runde 6, Gegner war da Aserbaidschan. In dieser Runde pausierte Rasmus Svane, der in den nächsten beiden Runden unglücklich agieren sollte – mit Schwarz nach weniger als 10 Zügen (laut Engines) klar besser stehen und daraus wurde 0/2, was per saldo zwei Mannschaftspunkte kostete. Aber ihn zum Sündenbock zu machen wäre unfair. Die meisten Fotos ab Turnierseite auf Facebook – Schwerpunkt dort jedenfalls gefühlt Damen und die georgischen Teams, war diesmal nicht ganz einfach um (zu meinem Konzept) passende Fotos zu finden.

Endstand bei den Damen: Russland 16, Georgien 15, Aserbaidschan 14, Ukraine und Niederlande 12, Rumänien, Armenien, Türkei 11, …. Deutschland 8 (Platz 21). Russland und Georgien landeten da, wo sie laut Setzliste hingehören – die Vorentscheidung fiel im direkten Duell bereits in Runde 4, wobei die Russinnen es danach noch spannend machten. Mit Aserbaidschan und Ukraine war auch zu rechnen, die Niederländerinnen spielten ein erfolgreiches Schweizer Gambit – in der nicht gespielten zehnten Runde hätten sie wohl einen „Brocken“ bekommen. Enttäuschend Platz 12 für die an vier gesetzten Polinnen, Ursachenforschung später. Deutschland war Nummer 19 der Setzliste und landete nach „abechslungsreichem“ Turnier ungefähr da.

Wer versteht den Titel? 2011 wurde Deutschland im griechischen Porto Carras überraschend Europameister, diesmal machten sie bis Runde 7 einiges ähnlich und waren dabei noch effizienter: nie höher als 2,5-1,5 gewinnen. Ähnlich war auch, dass verschiedene Spieler ein Match positiv entschieden oder retteten und auch, dass sie durch verlorene Mannschaftspunkte die stärksten Gegner zunächst vermieden. Die Unterschiede? 2011 hatten sie gar nicht gegen die an eins gesetzten Russen gespielt, das lag dabei an denen. Damals war Deutschland auch individuell fast unschlagbar, diesmal gab es durchaus individuelle Niederlagen aber die wurden meistens kompensiert.

Und natürlich die Mannschaftsaufstellung: Nur Georg Meier und Daniel Fridman waren bereits 2011 im Team. Matthias Bluebaum und Rasmus Svane waren damals noch sehr jung, Liviu-Dieter Nisipeanu noch für Rumänien spielberechtigt. Dass er damals nicht mitspielte war, jedenfalls im Nachhinein, ein Anzeichen für einen möglichen Verbandswechsel – und auch ein anderer Verbandswechsel zeichnete sich bereits kurz nach dem Turnier ab. Naiditsch war diesmal in anderer Rolle vor Ort, ebenso Jan Gustafsson – Teamkapitän für die Niederlande. Buhmann spielte 2011 nur sporadisch und ist aktuell als deutsche Nummer 20 eher kein Kandidat für die Nationalmannschaft.

Zum Turnier diesmal, die ersten Runden eher im Schnelldurchlauf: 2-2 zu Beginn gegen die Republik Nordmazedonien war etwas wenig, 2.5-1.5 gegen den nächsten Balkan-Gegner Montenegro eigentlich auch – aber das waren immerhin zwei Mannschaftspunkte. Die sicherte Rasmus Svane, der tags zuvor am verlorenen Mannschaftspunkt massgeblich beteiligt war. Nun ging es in den Kaukasus: beim 2-2 gegen Georgien verpasste Bluebaum den Sieg gegen den einmaligen Baadur Jobava – wer noch durch Kreativität auffiel, siehe später. Zur Auflockerung ein Foto, auch wenn es aus einer anderen Runde stammt:

Georgien hat die Brettreihenfolge (Brett 1 auf dem Foto hinten rechts) offenbar nach Bartpracht ermittelt – da ist Jobava immer noch nationale Spitze (und auch international können nur wenige, z.B. der Tscheche Jiri Stocek, mithalten). Diesbezüglich ist er auch besser als der nach Elo derzeit gut 50 Punkte bessere Neuzugang Cheparinov. Gegner Norwegen konnte bartmässig nicht mithalten, schließlich spielte ihr Wikinger M.C. parallel eine Abart Schach (ich kann Chess960 nichts abgewinnen, weder passiv-zuschauend noch aktiv). Schachlich endete auch dieses Match 2-2, zurück zum deutschen Team:

In Runde 4 war Griechenland ein vielleicht unangenehmer/nicht zu unterschätzender, aber nominell noch relativ leichter Gegner. Diesmal wurde es das „übliche“ 2,5-1,5 aus deutscher Sicht: Georg Meier strandete in Sicht des Remishafens – wenn er den b-Freibauern im Auge behalten hätte, hätte Gegner Banikas zwar ausreichende Kompensation für die Qualität aber nicht mehr als das. Aber vorne gewannen Nisipeanu und Fridman recht souverän.

Damit kam es zu einer Paarung, bei der ich immer gemischte Gefühle habe: Deutschland-Niederlande, schließlich bin ich fünf von fünf Spielern des anderen Teams bereits persönlich begegnet. Aus deutscher Schicht: wenn man das Spitzenbrett neutralisieren kann ist an den drei anderen Brettern alles möglich. So kam es auch: Nisipeanu erreichte gegen Giri ein problemloses Schwarzremis – da Giris Opfer zwecks Dauerschach nicht ganz korrekt war gar ein „Plusremis“. Entscheidend war dann, wer beim niederländischenTeam insgesamt gut drauf war und wer nicht: Der Nationalmannschafts-Stammspieler Erwin l’Ami und „Neuzugang“ Erik van den Doel (bis 2007 Stammspieler, danach mehr als zehn Jahre Pause) verloren, Jorden van Foreest gewann. van den Doels Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern gegen Rasmus Svane war wohl objektiv remis, am Brett dann aber nicht. Fotostrecke und ein paar Worte zu den Niederlanden kommt später (im allgemeinen EM-Beitrag).

Runde 6 gegen Aserbaidschan unter denselben Vorzeichen: gegnerisches Spitzenbrett neutralisieren, und dann geht an den drei anderen Brettern vielleicht etwas. Schließlich spielte Aserbaidschan ohne Radjabov, und Naiditsch ist laut aktueller Elozahl exakt genauso gut oder schlecht wie Bluebaum. Das wurde dann auch remis, ebenso Nisipeanu-Mamedyarov am Spitzenbrett. Mamedyarov spielte in diesem Turnier übrigens immer remis – sechs der sieben Remisen kosteten ihn insgesamt 9 Elopunkte, das siebte war auf Elo-Augenhöhe gegen Aronian.

Fridmans Eröffnung mit Weiß gegen Mamedov war eigentlich etwas misslungen, aber Schwarz verzichtete auf das raumgreifende 16.-e4 und opferte stattdessen einen Bauern. Dafür hatte er Kompensation, aber die kam ihm abhanden, dann musste er sich von zwei weiteren Bauern verabschieden und dann gab er auf. Guseinov hatte gegen Meier ab dem 45. Zug einen Mehrbauern, aber der war bei reduziertem Material – Türme, ungleichfarbige Läufer und zwei gegen eins am Königsflügel – recht irrelevant. Nach hundertundsiebzehn Zügen wurde dann Remis vereinbart – zum vierten und, wie sich herausstellte, letzten Mal im Turnier 2,5-1,5 für Deutschland.

Nach dieser Runde hätte man das Turnier vielleicht abbrechen können – Platz zwei für Deutschland ein Punkt hinter Russland und ein Punkt vor Ukraine, Armenien und England. Oder wollten sie etwa noch mehr, wie damals in Porto Carras? Auch die an 28 gesetzte Schweiz hätte sich über Platz 6 nicht beschwert, das war aber eher ein Zufalls-Zwischenprodukt des Schweizer [sic] Systems.

Anders als damals in Porto Carras spielte Deutschland nun gegen Russland, das nächste Foto vom russischen Schachverband:

Im Vordergrund die beste Nachricht aus deutscher Sicht: Das russische Spitzenbrett Andreikin durfte sich nach Sieg tags zuvor gegen Ivanchuk ausruhen, und Nisipeanu gewann erstaunlich glatt gegen dessen Vertretung Vitiugov. Eher wenig los war bei den Remispartien Alekseenko-Fridman und Meier-Matlakov, noch so eine Partie und das nächste 2,5-1,5 für Deutschland wäre perfekt. Es kam anders: Wie eingangs erwähnt, stand Svane nach 8.0-0-0 mit Schwarz bereits besser, aber Dubov ist eher egal wie die Stellung objektiv zu beurteilen ist – Hauptsache er kann wirbeln. Es ging hin und her mit dem besseren (Matt-)Ende für den Russen.

Da er nicht nur in dieser Runde äusserst kreativ spielte bekommt er ein individuelles Foto. Mitunter begnügte er sich mit Dauerschach, das war diesmal auch denkbar aber dann wollte und bekam er doch mehr. Svanes letzte Chance war (29.Le6+) 29.-Dxe6 30.Sxe6 Kxe6 – mit aus schwarzer Sicht Turm und Läuferpaar gegen Dame wäre es dann noch unklar, stattdessen musste sein König (der im 5. Zug theoriegemäss kurz rochiert hatte) von d7 weiter wandern bis nach a3 – Svane gönnte dem Gegner das abschliessende 39.Da2#.

Und das sind alle Russen, die in Runde 7 gegen Deutschland spielten.

Weiterhin Platz eins für Russland, und nun Platz vier für Deutschland, das von der Ukraine und England nach Mannschaftspunkten eingeholt und nach Wertung überholt wurde – letzteres Folge von relativ wenig Brettpunkten des deutschen Teams.

Russland spielte nun gegen England, und Deutschland gegen die Ukraine. Ein 3,5-0,5 gegen denselben Gegner (in völlig anderer Austellung) war das dickste deutsche Ausrufezeichen damals 2011 in Porto Carras, nun lief es anders: 3-1 für die Ukraine war vom Ergebnis her fast ebenso deutlich, vom Verlauf der Partien her aus deutscher Sicht vermeidbar (sagt ein Engine-unterstützter Amateurkibitz). Georg Meier verpasste den schmalen Remisweg gegen Volokitin, aber da kann man das spätere Ergebnis 1-0 noch als logisch bezeichnen: Weiß stand zwar objektiv nicht besser, aber hatte ordentlich Druck gemacht.

Svane-Onischuk (Vladimir, Alexander spielt ja für die USA) begann aus deutscher Sicht vielversprechend, wobei man eventuell (tags zuvor Svane-Dubov) vorgewarnt war: Nach den relativ normalen Zügen 1.d4 d6 2.e4 Sf6 3.Sc3 g6 4.Sf3 Lg7 5.Le3 überlegte Schwarz bereits gut 13 Minuten – und dann kam 5.-d5?!, total neu aber nicht besonders gut. Weiß bekam Oberwasser und eine Mehrfigur (wobei dieser La6 etas im Abseits stand und Aussperrung mit b6-b5 drohte). Onischuk wirbelte und drohte, 34.De3 (nur so!) hätte alles neutralisiert mit Gewinnstellung, nach 34.Te2? dauerte es nur noch wenige Züge bis zum 0-1. 2-2 oder gar das nächste 2,5-1,5 war gegen die Ukraine möglich, aber es wurde aus deutscher Sicht 1-3.

In der letzten Runde nach Balkan, Kaukasus und grösseren Ländern aus der ehemaligen Sowjetunion nochmals Westeuropa – noch ist England ja auch EU-Mitglied. Die waren an zwei gesetzt obwohl sie momentan keinen Spieler mit 2700+ haben – aber alle vier sind nahe dran und waren zeitweise, Adams ja viele Jahre lang, Mitglied im Club. Brett 5 Nicholas Pert (Elo 2557) durfte nur die ersten beiden Runden mitspielen.

Ergebnis in der letzten Runde das bekannte 2,5-1,5, aber für England. Diesmal war aus deutscher Sicht nicht viel mehr möglich: Fridman kam gegen Howell eine Qualität abhanden, danach leistete er zähen Widerstand aber seine Festung war keine.

Das war’s zu den deutschen Herren, zu den Damen ein etwas anderes Konzept. Individuell betrachtet 16 Siege (nicht schlecht) und 11 Niederlagen (nicht gut), da kann ich nicht auf Partien eingehen. Höhepunkt war vielleicht das knappe 1,5-2,5 zu Beginn gegen die Ukraine, versöhnlicher Abschluss ein abschliessendes 3,5-0,5. Das war allerdings gegen das kleine Belgien, demnach gab es auch Tiefpunkte. Bis auf die Ukraine und in Runde 7 die Türkei hatten sie nur nominell etwa gleichwertige bis klar schwächere Gegnerinnen. Tiefpunkt nach Elologik ein 1,5-2,5 gegen die dritte georgische Mannschaft – Jugend forsch mit momentan an allen vier Brettern Elo unter 2000. Die haben allerdings auch andere geärgert, zumindest an einzelnen Brettern, und zu fünft (mit K-Faktor 40) satte 362 Elopunkte hinzu gewonnen.

Gegen die Ukraine war eventuell gar mehr drin, wobei zum Gesamtbild auch gehört: Hanna Marie Klek stand gegen Iulija Osmak über weite Strecken der Partie schlecht und gewann am Ende quasi aus dem Nichts heraus. Das beflügelte sie vielleicht, persönlich war das Turnier für sie ein voller Erfolg: am Ende 6,5/8, 40 Elopunkte im Rückreisegepäck. Die vier anderen dagegen alle mehr oder weniger im Elosoll – Sarah Papp (in diesem Turnier noch Hoolt), Fiona Sieber, Filiz Osmanodja und Annmarie Mütsch.

Warum eigentlich diese junge und relativ eloschwache Mannschaft? Derlei Diskussionen sind zum deutschen Damenteam immergrün, ähnliches habe ich schon mehrfach geschrieben. Elo ist ein Faktor, der dabei gerade im Damenbereich starken Schwankungen unterliegt. Man muss davon ausgehen, dass die Mannschaft einige Monate vor dem Turnier nominiert wurde: noch im Juni 2019 war die nun scheinbar ignorierte Josefine Heinemann nach Elo jedenfalls nicht besser als die fünf die in Batumi mitspielten, die nun auch elobessere Lara Schulze hatte gerade mal 2160 (und hat danach anfangs auch von K-Faktor 30-40 profitiert). Andere Faktoren: wer will überhaupt und hat Zeit für dieses Turnier? Elisabeth Paehtz und Marta Michna wollen nicht mehr, zwingen kann man sie nicht. Elena Koepke wurde vor kurzem Mutter (ist das ausserhalb der Münchner Schachszene bekannt?). Beruf hat für einige vielleicht auch Priorität. Derlei Fragen stellen sich bei den Männern eher nicht.

Nächster Faktor: aktuelle Motivation und (gehört dann dazu) Turnieraktivität. Mannschaftskämpfe (ein bis zwei am Wochenende) sind da etwas anderes als komplette Turniere, starke Opens sind etwas anderes als eher schwach besetzte. Nächster Faktor: „Teamfähigkeit“ – das ist natürlich subjektiv und Insider, die Spielerinnen persönlich kennen und eventuell bei früheren Gelegenheiten erlebt haben, können das beurteilen, Außenstehende nicht. „Erfahrung und/oder Jugend“ – ein immergrünes Thema. Wie man diese ganzen Faktoren gewichtet, auch darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich vermute mal, dass die deutschen Damen bei nächster Gelegenheit (ist wohl die Olympiade 2020) wieder in anderer Aufstellung antreten werden – schon weil sie eigentlich nie zweimal in auch nur annähernd derselben Aufstellung (und Brettreihenfolge) spielten. Kein richtiger Abschluss für diesen Artikel, diese Diskussionen werden wohl endlos weitergehen …. .