November 3, 2024

Oparin über Oparin beim Grand Swiss

Erst mal allgemein zu Turnier und laufendem WM-Zyklus: Beim Kandidatenturnier stehen nun fünf von acht Teilnehmern fest, der sechste wird demnächst in Dubai zwischen Carlsen und Nepomniachtchi ermittelt, die beiden verbleibenden dann Februar bis April in Berlin. Wann und wo (genau) das Kandidatenturnier dann stattfindet ist wohl noch nicht bekannt, fest steht aber: da gibt es dann einen Sieger und sieben Verlierer.

Beim Grand Swiss war es etwas komplizierter: zwei Hauptpreise, sechs Trostpreise (wobei man wohl nur einen dieser sechs trösten muss) und insgesamt 40 Geldpreise – bzw., da am Ende 16 Spieler Platz 31 teilten, deren 46. GM-Normen spielten diesmal im offenen Turnier keine Rolle, der einzige IM Fy Antenaina Rakotomahora aus Madagaskar wurde souverän Letzter. Das war vor zwei Jahren auf der Isle of Man anders, den dazugehörigen Beitrag aus meiner Tastatur verlinke ich mal. Diesmal war es im parallelen Damenturnier anders, aber das ist nicht Thema dieses Beitrags.

Nun kurz zu mir: Innerhalb weniger Tage mach(t)e ich nun zwei schachliche Dinge zwar nicht das erste Mal im Leben, aber doch das erste Mal seit langer Zeit: Freitag Schach am Brett – 3D-Schach verglichen mit dem ganzen Quarantäneliga-Gezocke, mit in Bayern (vielleicht auch anderswo) 2G. Das war für mich persönlich nicht erfolgreich, aber die Mannschaft hat gewonnen. Und nun mal wieder ein Artikel – vielleicht denkt der Leser, dass ich aus der Übung bin da ich mich schwer tue, ihn zu strukturieren. Es liegt aber auch am Thema, und es ist eher Printmedium (monatlich) als tagesaktuelle Berichterstattung im Internet. Antwort von Grigoriy Oparin auf meine Anfrage konnte nicht sofort kommen, da er wohl erst die Rückreise aus Riga in die USA (wo er nun studiert) absolvieren musste.

Grund für meine schreiberische Inaktivität war auch, dass ich derzeit als Jugendleiter im Verein eigentlich ausgelastet bin. Aber nun hat sich nach der U14 des SK Tarrasch-1945 München noch ein Münchner für ein Schachturnier in Berlin (bei ihm sogar zwei) qualifiziert. Meine Jungens (mit Mädel) wurden bayerischer U14-Mannschaftsmeister und spielen deshalb Ende Dezember bei der deutschen Vereinsmeisterschaft mit – wenn sie denn stattfinden kann, der Veranstalter ist optimistisch. Das ist dann ohne GMs in der Jugendherberge Berlin-Mitte. Austragungsort der FIDE Grand Prix Serie im neuen Jahr ist meines Wissens noch nicht bekannt, wohl an einem repräsentativeren Ort und auf jeden Fall mit GMs.

Recht kurz zu Grand Swiss insgesamt: Der Neu-Franzose Alireza Firouzja hat auf dem Titelfoto (von Anastasiya Karlovich, Quelle Flickr via Turnierseite) eine Nebenrolle, im Turnier hatte er die Hauptrolle und gewann am Ende – Firouzja-Hype dazu reichlich auf einschlägigen kommerziellen Schachseiten. Caruana konnte zwar mehrfach Gewinnstellungen nicht vertreten, aber gegen Firouzja schaffte er das und unter anderem deswegen ist auch er für das Kandidatenturnier qualifiziert. Punktgleich mit Caruana Grigoriy Oparin, aber schlechtere Wertung. Nochmals einen halben Punkt dahinter insgesamt 12 Spieler, aber ich nenne nur die fünf die sich auch für die GP-Serie qualifizierten: Yu Yangyi (aktuell bester Chinese mit Reiseerlaubnis?), Vincent Keymer (oben bereits indirekt erwähnt), Maxime Vachier-Lagrave (für das letzte Kandidatenturnier nicht qualifiziert und dann hat er doch mitgespielt), Alexandr Predke (Russe, mehr fällt mir zu ihm nicht ein) und Alexei Shirov (wieder Spanier, trotzdem für ihn Heimspiel).

Zu Shirov kann man noch mehr schreiben, z.B. dass er sich bereits mal für ein WM-Match qualifiziert hatte – aber das ist lange her, lassen wir das. Oder dass er sich laut meinem damaligen Beitrag (oben verlinkt) 2019 erst eine Stunde vor Meldeschluss für eine Teilnahme entschieden hatte, und diesmal erst lange nach offiziellem Meldeschluss. Warum durfte er trotzdem mitspielen? Weil einige andere absagten, beides lag am Corona-Virus. Lettland wurde von der vierten Corona-Welle früher erwischt als diverse andere Länder, deshalb dann Corona-Blase für alle am Turnier beteiligten. Shirov wollte da anfangs nicht mitmachen sondern von zu Hause zum Turnier pendeln statt wie alle anderen nur zwischen Turniersaal und Hotel, kurz vor Schluss hat er seine Meinung geändert und bereute es dann wohl nicht.

Aus deutscher Sicht: das Quartett Donchenko-Bluebaum-Keymer-Kollars (sortiert nach Elo vor dem Turnier) bewegte sich lange ziemlich im Gleichschritt: nach 6 Runden hatten alle 3,5 Punkte, und nach 7 Runden hatten alle 3,5 Punkte. Dann kam die Zielgerade und die bewältigte Keymer (am Ende 7/11) besser als Bluebaum (5,5/11) sowie Donchenko und Kollars (beide 5/11). Nur Kollars wird im weiteren Text nochmals erwähnt, Keymer spielte gegen Oparin Remis und Remisen bleiben außen vor. Einsatz war neben Qualifikation für die GP-Serie: Wer ist/wird nominell bester Deutscher (Nisipeanu war da Zuschauer), wer ist in der weltweiten live top100 vertreten? Damenturnier wie bereits erwähnt nicht Thema dieses Beitrags.

Und nun zu Grigoriy Oparin. Das neueste „Interview“ (bzw. Q&A im Internet) hat eine lange Vorgeschichte: Angefangen hatte es damit, dass ich im Juli 2016 neugierig fragte, warum er gebürtiger Münchner ist: Seine Eltern sind beide Physiker und arbeiteten damals am Max Planck Institut für Quantenoptik, im zarten Alter von 2 Monaten nahmen sie ihn dann mit zurück nach Russland. Anlass war damals sein Sieg bei Russian Higher League (Halbfinale der russischen Meisterschaft), weitere Anlässe ihn zu kontaktieren waren: das danach fällige russische Superfinale, Europacup für Vereinsteams, Nutcracker 2016 (russische Version von „Rising Stars vs. Experience“), Gibraltar 2018, wieder Russian Higher League 2018, ein Turnier in Saint Louis 2019 und nun Grand Swiss 2021. Die ganzen messages habe ich noch, von den Artikeln ist nur der letzte noch online.

Grigoriy ist dabei offenbar gar kein Schachprofi, sondern Student – anscheinend ernsthaft denn immer mal wieder Dinge wie „Sorry that it took me so long to answer your message, was really busy at university.“ oder „It’s too early for me to start celebrating New Year and Christmas, need to pass couple of exams in the university“. Studienfach war jedenfalls anfangs „Fundamental and Applied Linguistics“, zunächst in Moskau und seit 2019 in Missouri/USA. 

Nach der langen Vorspeise (Elfgängemenü, Berichte zu jeder Runde, gab es nur anderswo) nun der Hauptgang. Der neueste Austausch mit Grigoriy Oparin – bei seiner Antwort baue ich Diagramme ein: 

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Dear Grigoriy,

Die Zeit vergeht – mehr als zwei Jahre – aber nun kann man wohl wieder zum besten Ergebnis der Karriere gratulieren, auch in finanzieller Hinsicht. Ich nehme an, Du warst nicht allzu traurig, dass Du die Qualifikation für das Kandidatenturnier verpasst hast? Einige [in Schachforen] hatten gesagt, dass Du in der letzten Partie gegen Firouzja bedingungslos auf Sieg spielen solltest (all-or-nothing), das war dann wohl nicht der Fall. Vielleicht hätte es in derselben Turniersituation z.B. Vachier-Lagrave getan (dabei wohl bereits nach Elo für die FIDE GP Serie qualifiziert). 

Ein paar Fragen wie üblich, vielleicht weniger zum reinen Schach:

Wie fühlte es sich an, gegen Landsleute zu spielen und zu gewinnen? In einem internationalen Turnier, sind derlei Partien für Dich anders als gegen Ausländer? [das hat er dann nicht beantwortet]

Die Siege gegen Goryachkina und Dubov waren beide „plötzlich“ („out of the blue“). Mit 27.Tf1? kreierte Goryachkina eine Drohung, die zuvor gar nicht existierte (mit Fluchtfeld f1 für ihren König). In solchen Situationen, bist Du geneigt „Yessss!“ zu rufen, aus dem Stuhl aufzuspringen (das machte Ivanchuk einmal in einer Blitzpartie gegen Carlsen), auf die Uhr einzudreschen, …. ? Es wäre wohl unhöflich, aber hast Du das Bedürfnis oder bleibst Du auch im Inneren total ruhig? 

Zur Partie gegen Kollars fällt mir keine Frage ein, aber wenn Du eine vorschlagen kannst mit Antwort, gerne 🙂 .

In der Partie gegen Vitiugov natürlich  zu 11.-Kd7!??: Du hast Dich dazu bereits im offiziellen Interview geäussert, meine Fragen: Was ging durch Deinen Kopf, während Du dafür 15 Minuten investiert hast? Würdest Du so einen Zug im Blitz spielen und Dich komplett auf Deine Intuition verlassen? 
Regards Thomas

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Und die Antwort mit Diagramm-Unterbrechungen:

Hi Thomas, Danke für Deine Nachricht! Great to hear from you again!  Ja, es war wohl das bisher beste Ergebnis meiner Karriere. Vor der letzten Runde, mit einem halben Punkt Rückstand auf den Führenden, hätte ich natürlich nichts dagegen gehabt, mich für das Kandidatenturnier zu qualifizieren. Aber ich betrachtete die Partie nicht als must-win – ich konnte ja auch zu viel verlieren. Ich wollte nur eine risikofreie Stellung, in der ich ein bisschen Druck ausüben kann. Und wenn er gut spielt, wird es Remis und ich qualifiziere mich für den Grand Prix. So kam es dann auch.

Ich würde nicht sagen, dass ich aus dem Nichts heraus gegen Goryachkina gewonnen habe. Aus der Eröffnung heraus hatte sie eine sehr solide Stellung und wollte wohl kontrolliert etwas Druck ausüben. Aber mit 19.-f5!? etwas Ungleichgewicht erzeugen war wohl eine gute Entscheidung von mir. Angesichts der Tatsache, dass sie nach dem russischen Superfinale (der Herren) ziemlich müde war, „erwartete“ ich, dass sie irgendwann patzt.

[Das war der Moment, 27.Tf1? erlaubte 27.-Txf3!! und vier Züge danach 0-1]

Gegen Dubov, das war absolut ein unerwarteter blinder Fleck von ihm. Er sagte mir nach der Partie, dass er nicht berücksichtigt hatte, dass 41.Td6 Txd6 42.Tc8+ nicht geht – mein Läufer kontrolliert dieses Feld (Ich sah dieses Detail, bevor ich 35.-Td8 spielte).

[Wohin mit dem weißen Turm? Nach 40.Tb3 löst es sich quasi in Wohlgefallen auf, ziemlich forciert entsteht dann ein remises Turmendspiel. Aber es kam 40.Tb6?? La7 41.Tc7 Lxb6 42.axb6 Tb8 0-1.]

Wenn so etwas passiert, bin ich normalerweise nach außen weiterhin ruhig, aber in mir drin ist es anders. Zum Beispiel, als 40.Tb6?? aufs Brett kam, stieg mein Puls auf vielleicht 150 pro Minute.

Die Partie gegen Kollars habe ich insgesamt sehr gut gespielt – großartige Vorbereitung (im Prinzip kannte ich es bis 16.-g5) und gute Vorteilsverwertung (20.La8! war hübsch).

[Sinn und Zweck von 20.Lc6-a8 war, dass der Läufer auf dieser Diagonale bleibt – nach 20.Ld5 c6 nicht der Fall. Und noch ein Diagramm:]

[nach 34.Tff6 – beide Türme nun mitten in der schwarzen Stellung, Läufer wieder auf d5, nur die Dame weiterhin auf d2. Kollars gab mit 34.-Dxf6 35.Txf6 Txd5 Dame für Turm und Läufer, Engines betrachten 34.-Txd6 auch als hoffnungslos.]

Dieser Sieg [chronologisch vor dem Sieg gegen Dubov] war wohl ein Wendepunkt in meinem Turnier – er gab mir viel Selbstvertrauen, ab hier dachte ich an top10.

Zu 11.-Kd7 gegen Vitiugov:

[das Diagramm mal zwischendrin und wieder nach dem diskutierten Zug]

Natürlich ist es etwas riskant, den König so früh in der Partie vor die Figuren zu stellen. Ich musste berechnen was passiert, wenn Weiß die Stellung mit f4 öffnet, sofort oder nach 12.0-0. Zum Beispiel hatte ich die Variante berechnet, die dann aufs Brett kam (12.0-0 Kc7 13.f4 Sg4 14.Ld2 exf4 15.Lxf4 f6 16.Sd4 Se5) bevor ich 11.-Kd7 spielte.

Insgesamt war es ein großartiges Turnier. Auch wenn diese lange Zeitkontrolle (7h für eine lange Partie) mir eher nicht zusagt, habe ich es sehr genossen.

Best regards, Grigoriy

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Man kann zur letzten Partie noch hinzufügen: Im offiziellen Interview (hier erwähnt) sagte Oparin:

„Insgesamt ist es eine typische Idee, den König nach c7 zu überführen, und Kd7 ist ein netter Anfang. Für mich war es der logischste Zug, der Punkt ist: ich will nicht wirklich meine Dame auf d8, oder den Läufer auf c8 bereits bewegen. Zum Beispiel könnte ich praktisch dasselbe tun und einfach De7 Ld7 0-0-0 spielen, aber es ist nicht klar wohin der Läufer gehört. Zum Beispiel kann er auch nach a6 gehen und meine Dame wird auf d8 nicht angegriffen, es gibt Ideen wie Sg3-f5. Also schien Kd7 richtig, ich berechnete dieses f4 Ding und sah nicht, dass es für Weiß funktioniert, also machte ich es einfach.“ 

Das weiße Figurenopfer 16.Sd4 hat er zu Recht ignoriert, sonst ginge es dem König auf c7 doch an den Kragen. Später gewann er beide weiße c-Bauern und so letztendlich die Partie („crazy game“, O-Ton Oparin).

Ich kann noch ergänzen, wer sich zuvor beim Weltcup für die GP-Serie qualifizierte: Bacrot, Vidit, Tabatabaei, Fedoseev, Shankland (die drei anderen im Viertelfinale waren Carlsen sowie die späteren Finalisten Duda und Karjakin). Zusammen mit – ich wiederhole mich – Oparin, Yu Yangyi, Keymer, Vachier-Lagrave, Predke und Shirov also bisher drei Russen, zwei Franzosen und sechs weitere Länder, darunter Deutschland und (auch ohne Firouzja) Iran. Dazu kommen nun noch 11 Spieler nach Elo Anfang Dezember – letztes Turnier davor wohl die momentan laufende Europameisterschaft für Nationalmannschaften. Für Michael Adams da eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: zusammen mit Bundesliga-Partien erfüllt er nun die Voraussetzung 9 Elo-gewertete Partien in 12 Monaten, Die schlechte: mit bisher 0,5/2 hat er sich elomäßig verschlechtert und war schon zuvor Wackel- oder Reservekandidat.

Derzeit wären es wohl Giri, Mamedyarov, So, Aronian, Grischuk, Rapport, Dominguez, Vitiugov, Wei Yi, Andreikin und Esipenko. Null bis weniger als neun Elo-gewertete Partien gilt für Ding Liren (der diesen WM-Zyklus womöglich komplett verpasst), Anand, Wang Hao (offiziell pensioniert), Nakamura (spielt, wenn überhaupt, nur noch Schnell- und Blitzschach) und Topalov (spielte auch vor der Pandemie nur noch sporadisch). Das alles ohne Gewähr. Außerdem dürfen FIDE und Ausrichter noch je einen Spieler nominieren.