April 19, 2024

Das – siehe Titelbild – kam dabei heraus: Sechs qualifizierten sich recht glatt für die KO-Runde der letzten acht – auch Radjabov, der am Ende Siebter wurde da er zum Schluss einem anderen Spieler geholfen hat. Ausgerechnet dem, der seinen Freiplatz im nächsten Kandidatenturnier scharf kritisierte – das machte Carlsen vielleicht, damit Conrad Schormann sich nicht einsam fühlt. Damit ist bereits angedeutet, dass Carlsen diesmal wackelte, ebenso Nepomniachtchi. Und Aronian erlitt dasselbe Schicksal wie Kramnik im Kandidatenturnier 2013: nach Tiebreak ausgeschieden, da Carlsen Schützenhilfe von Radjabov bekam.

Das ist der Endstand des Rundenturniers: Caruana 10/15, Giri, Nakamura, Vachier-Lagrave, So 9, Carlsen und Radjabov 8.5, Nepomniachtchi 8, Aronian 8, Mamedyarov 7.5, Firouzja, Svidler, Ding Liren 7, Dubov 6, Grischuk 5, Pichot 1.5. Bei Punktgleichheit bestimmte der Tiebreak in sechs Fällen den Gegner im Viertelfinale, in einem Fall ob man in der KO-Runde dabei ist oder nicht. Darüber entschied Aronians Einsteller 28.-Lb6??? in einer „nichts los“ Stellung gegen Nepomniachtchi, das war aber nicht der einzige Lapsus des Noch-Armeniers im Turnier. Warum durfte Pichot mitspielen? So wollte es das Publikum (er gewann eine Umfrage unter chess24-Premimummitgliedern), warum auch immer. Und dann hat er seine krasse Außenseiterrolle überzeugend bestätigt. 

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Schnellschach für (mit einer Ausnahme) Elo 2700+ und klassischer Bedenkzeit für Damen mit Elo 2420-2550 beim Gibraltar Grand Prix? Wie bereits angedeutet, nicht unbedingt Qualität und Unterhaltungswert (oft antikorreliert) der Partien: wenn man ihnen weniger Bedenkzeit gibt, können auch männliche Weltklassespieler patzen und turbulente Partien produzieren. Valentina Gunina, die vieles kann außer Remis spielen, wäre demnach nicht unbedingt eine Bereicherung für die Meltwater Tour.

Eines können die Herren besser: Remis-Eröffnungstheorie, in fast allen Runden dank drei Experten. Remiskönig wurde da nicht Radjabov, auch nicht Nakamura (beide vier Kurzremisen), sondern Wesley So (neun in fünfzehn Runden bzw. eigentlich vierzehn, gegen Pichot machte das niemand). Neben dem Berliner beherrschen sie auch Italienisch, Damengambit und Grünfeld – das ist Weltklasseniveau! In Runde 10 (u.a. Radjabov-Pichot 1-0) und Runde 13 (u.a. Pichot-So 0-1) gab es gar kein Kurzremis, im Schnitt eines pro Runde dann dank drei Kurzremisen in der 15. und letzten Runde, da sogar Giri-MVL 1/2 ohne Beteiligung eines üblichen Verdächtigen. Die Muzychuk-Schwestern hatten in Gibraltar dagegen ein Kurzremis produziert, dass es zuvor offenbar nur einmal (ungarische Schnellschach-Meisterschaft) gab – Kosintseva-Kosintseva, Spanisch Abtausch und Remis, das war einmal.

Noch eines vorab: Livekommentator Peter Leko hat Ahnung vom Schach, schade dass er mitunter andere Prioritäten setzen musste – Auftrag war wohl Carlsen-Hype, Carlsen-Hype, Carlsen-Hype, Carlsen-Hype, Firouzja-Hype, Firouzja-Hype und dann vielleicht Objektivität. Zweimal war es offensichtlich: Zu Aronian-Carlsen sagte er „Schwarz steht unter Druck, andere verlieren so etwas, Carlsen hält das locker Remis“. Carlsen ist dabei nicht unbedingt dafür bekannt, etwas schlechtere Stellungen zäh zu verteidigen (eher Karjakin oder Giri), und ohnehin bevorzuge ich Objektivität. Carlsen verlor das dann – potentiell war es turnierrelevant, letztendlich nicht. Bei Aronian-Firouzja wurde der Schwarzspieler dafür gelobt, dass eine ausgeglichene Stellung ausgeglichen blieb. Für irgendwas muss man Firouzja eben loben, gute Gründe dafür gab es (auch) diesmal eher nicht. Ab dem 40. Zug war es dann nicht mehr ausgeglichen, Aronian gewann.

Und nun Spieler für Spieler:

Caruana dominierte am Ende, auf die Sprünge geholfen hat ihm dabei ein Amerikaner – aber kein (zukünftiger) Landsmann. Dass Pichot eine total gewonnene Stellung gegen Caruana gar noch verlor zeigt, dass der Argentinier eben ein Fremdkörper im Turnier war.

Giri hatte einen tollen ersten Tag mit 4/5. Dabei geholfen hat das „Freilos“ gegen Pichot bereits in Runde eins, sowie dass Ding Liren patzte, der dritte Sieg im Grünfeld-Endspiel gegen Grischuk dann recht souverän. Am zweiten Tag schien die Qualifikation potentiell gefährdet: zwar glatter Schwarzsieg gegen Firouzja (mit nur einem Wackler, zwischendurch war die Stellung kurz wieder ausgeglichen), aber dann Niederlagen gegen Svidler und Caruana. Die Partie gegen Svidler hatte er mit Weiß übereifrig-naiv angelegt. 

Eventuelle Sorgen wurden zu Beginn des dritten Tags hinfällig: Radjabov bekam von ihm kein Berliner Kurzremis, sondern eine Niederlage im Endspiel – aus für Weiß verdächtiger Stellung heraus, aber dann ein voller Punkt. Dass er sich danach gegen Nepomniachtchi in Gewinnstellung mit Dauerschach begnügte, wurde nur für den Gegner turnierrelevant.

Nakamura: Zwei Siege in Runde zwei und drei, später noch der übliche volle Punkt gegen Pichot, alles in trockenen Tüchern. Sein Gewinnplan gegen Mamedyarov war, dass der Gegner im Schlafwagen-Berliner mit 5.Te1 später einen Bauern einstellt – es funktionierte. Nepomniachtchi verlor danach in für ihn guter Stellung Überblick und Partie. Am dritten Tag noch zwei entschiedene Partien: erst gönnte er Firouzja ein seltenes Erfolgserlebnis, dann profitierte er von Svidler-Patzern. Siege „aus eigener Kraft“ fast Fehlanzeige, muss ja auch nicht sein. Hauptsache kaum verlieren, die Null gegen Firouzja konnte er verkraften.

Vachier-Lagrave musste sich seine Siege eher selbst erarbeiten. Bei zwei Endspielsiegen gegen Grischuk und Nepomniachtchi hatten die Gegner durchaus Remischancen, aber der Franzose war durchgehend am Drücker und nur zwei Ergebnisse waren denkbar. Beim Schwarzsieg gegen Carlsen zeigte sich, dass die Sizilianisch-Fähigkeiten des Norwegers überschätzt werden. Sizilianisch auch gegen Mamedyarov, aber da galt 1.e4 c5 2.c3 – Weiß gewinnt. Sicher nicht forciert. Der Vollständigkeit halber: noch ein Sieg gegen Pichot – der in der Partie anfangs mithalten konnte und dann nicht mehr.

So gewann zu Beginn gegen Grischuk und Dubov, ab da remisierte er – außer gegen Pichot.

Radjabov mal vor Carlsen besprochen, auch wenn er bei Punktgleichheit den schlechteren Tiebreak hatte. Schon in der ersten Runde traf er auf Remispartner Nakamura, 19 Züge im Damengambit Formsache. Ab und zu gewann er dann, zuerst gegen Svidler aus schlechter Stellung heraus, die anderen Siege waren glatter. Niederlage gegen Giri hatten wir bereits, was er zum Schluss gegen Carlsen anstellte hatte nur für andere Folgen.

Carlsen holperte und stolperte durch das Turnier. Dabei begann es prima – Lotteriegewinn in Runde eins gegen Mamedyarov. Aber das wurde am ersten Tag durch die glatte Weißniederlage gegen MVL neutralisiert, und nicht einmal gegen Pichot konnte er gewinnen – Remis. Am zweiten Tag b-Bauer mit wechselndem Erfolg: 1.b4!? brachte zwar eine Gewinnstellung gegen Giri, aber die konnte er nicht gewinnen. 1.b3 funktionierte gegen Grischuk wunderbar, da der Gegner Komplikationen erzeugte und falsch behandelte. Auch Dubov war lieb zu Carlsen und wickelte freiwillig in ein schlechtes Endspiel ab. Aus +2 wurde durch die Null gegen Aronian wieder +1 – eventuell zu wenig.

Am dritten Tag konnte er sich anfangs eigentlich auf Nakamura verlassen, der landete früh in einer Verluststellung. Aber auch das konnte Carlsen nicht gewinnen. Da man Nakamura loben muss nannte man es „zähen Widerstand“: er hat halt weiter gespielt, und Carlsen verschoss dann den Elfmeter 48.fxe3 fxe3 49.T2d3. Glück hatte Carlsen, dass Svidler danach einen gesunden Mehrbauern im Endspiel verdaddelte. Und dann kam die letzte Runde, in der Carlsen unbedingt noch einen vollen Punkt brauchte. Radjabov, für den es um nichts mehr ging, war einverstanden: mehrfach gönnte er Carlsen Vorteil, den der Norweger dann wieder vergab – der letzte Verlustversuch 44.-De6???? mit trivial verlorenem Bauernendspiel war erfolgreich. Radjabovs grösstes Geschenk an Carlsen seit er in der entscheidenden Phase des Kandidatenturniers 2013 ebenfalls ein Remisendspiel vergeigte? Tiebreak-Opfer war damals Kramnik. Nun war es Aronian, aber erst zum letzten Qualifikanten:

Nepomniachtchi spielte relativ selten Remis, nur sechsmal (nur die Kellerkinder Grischuk und natürlich Pichot hatten noch weniger Remisen). Hinterher nannte er mehrere Schlüsselmomente: im Soll blieb er bei der unnötigen Niederlage gegen Nakamura und dem unnötigen Remis (aus totaler Gewinnstellung) gegen Firouzja, Glück hatte er beim Remis gegen Giri und auch – das erwähnte er nicht – dem Sieg gegen Aronian. Alles entscheidend die letzte Runde: mit Schwarz musste er gegen Grischuk gewinnen und lange sah es nicht danach aus. In der Eröffnung stellte der „Terrorist“ (O-Ton Grischuk zuvor beim Kandidatenturnier gegen Giri) ihn vor die Wahl sofort Remis oder schlechtere Stellung – in dieser Turniersituation wählte Nepo die schlechtere Stellung. Irgendwie stand er danach doch nicht mehr schlechter, aber ein Sieg schien in weiter Ferne. Eine taktische Chance (32.-Txg2+!) verpasste er, später opferte er doch die Qualität aber objektiv blieb es in der Remisbreite – Leko vermutete, dass Carlsen seine Partie gegen Radjabov nicht gewinnen wollte da es nicht nötig schien. Und dann gewann Nepomniachtchi doch noch.

Aronian stand in der Schlussrunde gegen Pichot ebenfalls unter Siegzwang, riskierte gegen Pichot viel aber gegen Pichot funktionierte es wunderbar. Es reichte nach Tiebreak nicht, zuvor im Turnier zu viele Unfälle: gleich zu Beginn Niederlage gegen Svidler aus totaler Gewinnstellung, die tiebreak-entscheidende Null gegen Nepo hatten wir bereits, und gegen Mamedyarov wusste er selbst nicht, warum er ein gegnerisches Remisangebot verschmähte und dann verlor. Am ersten Tag hatte er noch ein anderes Problem: Stromausfall bei ihm – er musste vom Handy spielen und hoffen, dass die Batterie durchhält. Dass statt ihm Carlsen die KO-Runde erreichte freut sicher Carlsen-Fans – ich bin bekanntlich keiner.

Nur zu einigen anderen Spielern: Svidler hätte am ehesten auch die KO-Runde erreichen können, nach Tag zwei war er noch unter den besten acht. Dann aber eine glatte Niederlage gegen Grischuk, die verpasste Chance gegen Carlsen und gegen Nakamura hat er sich selbst umgebracht, gar zweimal. Der Sieg zu Beginn gegen Aronian war allerdings mehr als glücklich. Firouzja ist – so sehe ich es – der am meisten überschätzte top20-Spieler. Vielleicht kann er den Hype um ihn irgendwann rechtfertigen, noch ist es nicht der Fall. Nur gelegentlich funktionierte sein spekulatives Schach: Mamedyarov hatte gegen ihn eine Figur eingestellt, Dubov hatte in eigentlich für ihn klar vorteilhaften Komplikationen das Nachsehen, Nakamura spielte eine „Modellpartie“ – wie sollte man mit Weiß das Wolga-Gambit nicht behandeln? Das blieb ohne Turnierfolgen für die Nummer 18 der Weltrangliste. Dagegen für Firouzja auch vier Niederlagen – sogar gegen Pichot, da ließ er sich mitten auf dem Brett seine Dame fangen. So erzielte Pichot seine anderthalb Pünktchen ausgerechnet gegen die Medienlieblinge Carlsen (der mit Schwarz kein Ungleichgewicht erzeugen konnte, stattdessen wurden nach und nach Figuren abgetauscht) und Firouzja.

Firouzja hat wieder mal nicht die KO-Runde erreicht – kein Problem, wahrscheinlich bekommt er trotzdem weitere Einladungen. Vielleicht darf auch Pichot nochmal mitspielen, schließlich hat er sich höflich für die Einladung bedankt – „war mir eine Ehre“. 

Im Viertelfinale nun:

Caruana-Nepomniachtchi (zwei Kandidatenturnier-Sieger, Karjakin und Anand fehlten diesmal)

Giri-Radjabov (der vermeintliche gegen den nachweislichen Remisspieler)

Nakamura-Carlsen (die beiden grössten Corona-Profiteure)

Vachier-Lagrave – So (wieder Dynamik gegen Sicherheitsschach)