Juli 27, 2024

Tata Steel Chess auf der Zielgeraden

Auch drei Runden vor Schluss gibt es mindestens vier Kandidaten für den Turniersieg – darunter einer, mit dem wohl niemand gerechnet hatte. Der bekam aber schon das letzte Titelbild, also gebe ich es nun dem Spieler, der sich durch zwei Siege in Runde 9 und 10 vorne etwas abgesetzt hat. Das lag an überraschenden Entwicklungen nach mehr als fünf Stunden in der zehnten Runde. Vorher war schon ein anderer Spieler für das Titelbild vorgesehen, aber das kommt später im Bericht.

Ein anderer Spieler hat seine ohnehin nicht allzu gute Turniersituation durch zwei Niederlagen weiter verschlechtert – nicht Vachier-Lagrave, der es durchaus versuchte, sondern Wojtaszek.

So steht es momentan: Giri 7/10, Esipenko, Caruana, Firouzja 6.5, van Foreest 6, Carlsen 5.5, Harikrishna und Grandelius 5, Tari, Duda, Vachier-Lagrave 4, Wojtaszek und Anton Guijarro 3.5, Donchenko 3. Donchenko also weiterhin oder wieder alleine am Tabellenende, das musste nicht sein.

Fotos wieder hier gefunden, © Jurriaan Hoefsmit – Tata Steel Chess Tournament 2021.

In Runde 9 gab es drei Entscheidungen – zwei mehr, eine nach aktuellem Stand weniger turnierrelevant. Daher in dieser Reihenfolge:

Ein guter Fotograf erwischt interessante Momente – hier die vier Elofavoriten des Turniers, von denen zwei bis vielleicht drei noch im Rennen um den Turniersieg sind. Auf dem Foto auch drei Sieger des Tages – damit ist schon klar, dass Giri und MVL nicht Remis spielten. Der mitdenkende Leser weiß auch, wer gewonnen hat – ich zeige beide nochmal etwas grösser:

Giri – Vachier-Lagrave 1-0: MVL spielte Najdorf-Sizilianisch, er kann es einfach nicht lassen. Das Ergebnis lag diesmal eher nicht an der (spezifischeren) Eröffnung, auch wenn (Team) Giri ebenfalls ein recht seltenes Abspiel mit frühem g2-g4-g5 wählte. Das funktionierte aber nicht so gut wie zuvor bei Esipenko-Carlsen. Schwarz opferte thematisch mit 20.-Txc3 eine Qualität, das war – jedenfalls so wie Giri darauf reagierte – auch OK. Der weiße König stand sehr luftig – Giri verriet hinterher im Interview, dass er eher hoffte, mit seinem extra Material (neben der Qualle auch ein Bauer) nicht viel schlechter zu stehen.

Aber dann konnte er sich konsolidieren, gab danach die Qualität zurück und erreichte ein jedenfalls klar besseres Endspiel. Er war sich nicht sicher, ob es gewonnen war – Engines waren sich relativ sicher und Giri gewann.

Auch bei Wojtaszek-Caruana 0-1 spielte das Feld c3 eine Rolle, 13.-Lxc3!??! war dabei in einem schon zuvor etwas ungewöhnlichen Königsinder (!) eher nicht thematisch. Danach war das schwarze Springerpaar (schon zuvor kam 8.-Lxf3) stärker als das weisse Läuferpaar. Caruana gewann danach einen Bauern, spielte auf Königsangriff, opferte eine Figur und erlaubte Damentausch. Am Ende hatte er zwar zwei Figuren weniger, allerdings vier Mehrbauern, von denen einer einzugsbereit auf f2 stand – daher 0-1.

Unter anderem wegen dieser Partie wollte ich ursprünglich Caruana (Foto tags darauf) das Titelbild geben. Er spielte von den Kandidaten für den Turniersieg vielleicht das interessanteste und kreativste Schach. Manche sagen da wohl Firouzja, aber bei Caruana war es fundiert und bei Firouzja oft recht spekulativ.

Carlsen-Grandelius 1-0 war wieder Najdorf-Sizilianisch, wobei der Norweger mit 6.Dd3!? wohlweislich Komplikationen vermied. Irgendwie bekam er später Oberwasser, und Grandelius verpasste Ausgleichschancen vor der Zeitkontrolle (30.-c4!, 35.-d3!?). Später dann ein gewonnenes Damenendspiel.

Esipenko war zwar vor der Runde müde, aber während der Partie hellwach:

Carlsen hat auch bei Firouzja-Esipenko vorbeigeschaut, nach etwas London-Geplänkel ein „korrektes“ Remis. Zweimal konnte Schwarz die Lage verschärfen, ohne unbedingt klar besser zu stehen; Mit 15.-g5!? konnte er ein weisses Figurenopfer erzwingen, aber dann wäre die Situation total unübersichtlich. Mit 20.-Sxb4!? konnte er zwei Bauern gewinnen, aber Engines geben Weiß danach volle Kompensation.

Ungewöhnliche Motive auch auf dem Brett wieder bei der Remispartie Anton-Harikrishna: nach 20 Zügen stand eine weisse Figur auf e4, der Leser denkt vielleicht „na und?“. Es war nicht etwa z.B. ein Springer, sondern der König als aktivste weisse Figur. Auf dem Brett außerdem noch je zwei Türme sowie – auch in ihrer Wirkung – ungleiche Läufer. Weiß stand optisch klar besser, es reichte dann nicht für den vollen Punkt.

In Runde 10 ging es drunter und drüber: Erst schienen viele Entscheidungen möglich, dann Remis in fast allen Partien, und dann doch drei entschiedene Partien – zwei davon überraschend nach der Zeitkontrolle. Ich beginne mal oben nach Eloschnitt:

Caruana-Carlsen 1/2 – ein durchgestrichenes 1-0 wäre übertrieben, aber Schwarz stand aus der Eröffnung heraus verdächtig und überlebte. Hinterher Interviews mit beiden Spielern:

Caruana relativ kurz und knapp

Carlsen jedenfalls für seine Verhältnisse redselig, wobei er diese gute Laune nur einen Moment lang zeigte – den hat Jurriaan Hoefsmit fotografisch dokumentiert.

Nun das Duell zweier vor der Runde punktgleicher Spieler mit unterschiedlichen Elozahlen:

Vachier-Lagrave – Donchenko 0-1! 1/2 1-0: Nach 16 Zügen glaubten Engines gar nicht mehr an die weisse Stellung, zu fantasiereich war die französische Interpretation der Fantasievariante gegen Caro-Kann (1.e4 c6 2.d4 d5 3.f3!?). Aber irgendwie konnte Donchenko den Vorteil nicht festhalten, später war es remislich auch wenn nun Weiß gewisse Gewinnversuche unternehmen konnte. Das Damenendspiel mit drei gegen zwei Bauern am Königsflügel war sicherlich Remis, bis Donchenko mit 57.-De8? (57.-Kf8, nur so!) einen weiteren Bauern einstellte. Eventuell konnte Schwarz wohl danach zumindest noch zähen, dabei eher symbolischen Widerstand leisten, aber in der Partie war nach 65 Zügen Schluss. Aus Donchenkos Sicht eine unnötige und dabei „verdiente“ Niederlage.

So gab es danach auch ein Interview mit MVL. Fiona Steil-Antoni befragte ihn auch zum Kandidatenturnier und erwähnte, dass die letzten beiden Sieger (Caruana und zuvor Karjakin) zuvor in Wijk aan Zee schlecht abgeschnitten hatten. MVLs Antwort: „Wenn das die Frage ist, ich mache es nicht absichtlich! Aber besser jetzt als im Kandidatenturnier. Es gib aber noch viel zu tun, damit es nicht auch im Kandidatenturnier passiert.“ Wieviel Zeit ihm bleibt – Wochen, Monate, vielleicht doch ein halbes Jahr oder noch mehr – das weiß höchstens das Corona-Virus, das aber keine Interviews gibt.

Eventuell hat MVL auch einen längerfristigen Masterplan: Seine Elokurve (die verlinkte Grafik wird erst am 1. Februar ergänzt) passt zum französischen Schach-Mantra reculer pour mieux sauter (etwa: Rückzug für besseren Angriff):

Mai 2011 Elo 2731, #20 der Weltrangliste
Mai 2012 2680, #69
Februar 2015 2775, #11
Juni 2015 2723, #28
August 2016 2819, #2
und nun 2763, live #11

Nach jedem Elotal hat er also seine zuvor beste Elozahl um etwa 40 Punkte verbessert und sich damit auch um neun Plätze in der Weltrangliste verbessert. Letzteres geht nun nicht noch einmal, aber der Schritt von Platz 2 auf Platz 1 ist vielleicht grösser als von 11 auf 2. Dabei ist klar, dass Carlsen Platz 1 in der Weltrangliste abgeben muss – an einen gebürtigen Franzosen, der dann Elo ca. 2860 hat (nicht etwa an einen gebürtigen Iraner mit Wohnsitz in Frankreich). Wie lange es dauert liegt auch daran, welche FIDE-gewertete Turniere mit klassischer Bedenkzeit stattfinden werden – Vachier-Lagraves mögliches Programm nach dem Kandidatenturnier: Grenke Chess, restliche Runden der deutschen Bundesliga, zwei Turniere der Grand Chess Tour, Weltcup.

Bei allen Prognosen gilt: sie werden eintreten oder auch nicht. Zurück zur Gegenwart:

Firouzja hatte ich gerade wieder erwähnt, er spielte mit Schwarz Remis gegen Grandelius. Duda – van Foreest wurde auch Remis, auch wenn der Pole ebenfalls ein bisschen versuchte, Donchenko am Tabellenende einzuholen oder gar abzulösen. Dann erwähne ich auch noch Harikrishna-Tari 1/2 und komme zu den anderen turnierrelevanten Partien mit Sieger und Verlierer:

Esipenko-Anton 1-0: erst stand der junge Russe leicht schlechter, dann stand er plötzlich – in diesem Fall schon vor der Zeitkontrolle – klar besser und gewann dann.

Giri-Wojtaszek 1-0: Mit dem London-System erreichte Giri eigentlich nichts, dann stand er doch besser und daraus wurde dann ein Endspiel mit vier Türmen, zwei Leichtfiguren (weisser Springer, schwarzer Läufer) und je drei Bauern am Königsflügel. Das sollte doch Remis sein, aber Giri knetete es hartnäckig bis Wojtaszek Milch gab – 48.-Lb2?? 49.Txh7!! bumm und 1-0.

Wie geht es weiter? Mit einem Ruhetag, und dann am Freitag die Spitzenpaarungen Carlsen-Giri und Firouzja-Caruana, im Tabellenkeller Donchenko-Duda und Wojtaszek-MVL, im Mittelfeld van Foreest-Harikrishna, gemischt Tari-Esipenko. Giri trifft danach noch auf Firouzja und Anton. Esipenko hat mit danach van Foreest und Donchenko das gefühlt leichteste Restprogramm, wobei Caruana in den verbleibenden Runden mit Anton und Tari auch „lösbare Aufgaben“(?) hat. Firouzja spielt zum Schluss gegen Wojtaszek. van Foreest hat, jedenfalls nach Elo, das leichtere Restprogramm (Harikrishna, Esipenko und Grandelius) als Carlsen (Giri, Wojtaszek und MVL) – dabei sollte man Carlsens Talent, dass Gegner grobe Fehler machen, nach wie vor nicht unterschätzen.

Donchenko spielt in den letzten Runden noch gegen Harikrishna und Esipenko. Womöglich muss er eine der drei letzten Partien gewinnen – vielleicht nicht für Platz 13 in Wijk aan Zee (die vor ihm platzierten Wojtaszek und Anton haben beide ein recht schweres Restprogramm) aber wohl für Platz 1 in der deutschen Eloliste, der live-momentan wieder Matthias Bluebaum gehört.