April 19, 2024

Skilling Viertel- und Halbfinale

Für das Titelbild bemühe ich mal wieder das Archiv: Am Brett trafen Carlsen und So zuletzt im Januar 2020 in Wijk aan Zee aufeinander – war übrigens ein äusserst lahmes Remis. Nun treffen sie in einem Internet-Finale aufeinander – geographisch getrennt, schachlich miteinander verbunden. Bei all dem Gerede über viele entschiedene Partien im Schnellschach sind es die zwei Spieler, die eher sporadisch gewonnen und vor allem selten verloren haben. So zeigte dabei in der KO-Runde sein grosses Talent als begnadeter Remisspieler – auch klare Gewinnstellungen hielt er oft locker Remis.

Im Viertelfinale schien zunächst möglich, dass sich andere Spieler durchsetzen, dann gab es doch – wie ja auch im Fernsehen – Wiederholungen. Im Halbfinale gewann Wesley So eine von acht Partien und remisierte den Rest. Mehr Siege waren dabei möglich, aber wie gesagt: er ist ein begnadeter Remisspieler. Carlsen holperte und stolperte dagegen durch die KO-Runden, aber am Ende zählen Ergebnisse und sonst nichts. Im Halbfinale bekam er von Nepomniachtchi mehrere verfrühte Geburtstagsgeschenke, so kennt man den Norweger!

Nun ein paar Worte zu allen sechs Matches, zuerst natürlich das Viertelfinale:

Carlsen-Giri 2-0 (2.5-1.5 + 2-2): In der allerersten Partie war Giri mit Schwarz klar am Drücker und ließ seinen Gegner im 27. Zug entwischen: statt weiter Druck zu machen spielte er 27.-Dxe3+? nebst Damentausch und nur symbolisch besserem Endspiel. So beeindruckend war offenbar die weiße „Drohung“ 28.Dxc7+ – ein Schachgebot, nicht mehr und nicht weniger. Die vierte Partie des ersten Matches gewann Carlsen in seinem bevorzugten Stil: der Gegner vergeigt ein Remisendspiel. Nach 19.Txe3 wäre schon nichts mehr los gewesen, nach 19.fxe3?! bekam Schwarz allmählich Oberwasser. Alle anderen Partien Remis – insgesamt bewahrheitete sich meine Prognose, dass andere Matches schachlich gehaltvoller waren.

Die anderen Matches endeten insgesamt unentschieden, dann einmal Entscheidung im Blitzschach und zweimal siegte Schwarz durch ein Remis im Armageddon.

So-Radjabov 1-1 (0.5-2.5, 2.5-1.5, 1.5-1.5 Vorteil So): Im ersten Match eine Klatsche für So, warum ist er auch vom Glauben abgefallen und hat in der ersten Partie eine Zugwiederholung verschmäht? Zuvor hatte er mit 24.Lxh6 gar eine Figur geopfert, zwar nicht so-lide aber spielbar. Radjabov gab die Figur danach zurück, bekam dadurch Initiative und letztendlich einen vollen Punkt. Radjabov gewann auch die dritte Partie, nach Komplikationen in einem damenlosen Mittelspiel und dank eines gegnerischen Wanderkönigs, der sich mit 30.Kc5? freiwillig in ein Mattnetz begab – nach 30.Kb3 hätte Schwarz Kompensation für die geopferte Figur und wohl kurz danach Dauerschach, nicht mehr und nicht weniger.

Im zweiten Match konnte So ausgleichen. Entscheidend dabei, dass seine Versuche, ein klar gewonnenes Turmendspiel Remis zu halten, am Ende erfolglos waren, da Radjabov nochmals daneben griff. Im Tiebreak drei Remisen, und So war im Viertelfinale da er im Armageddon Schwarz hatte. Gut, da stand er klar besser (die Untertreibung des Jahrtausends?) und wiederholte dann die Züge – hier verständlich.

Nepomniachtchi-Aronian 1-1 (1.5-2.5, 3-1, 2-0): Da war soviel los, dass man zu diesem Match einen eigenen Artikel oder Roman schreiben könnte. Im ersten Match lag Aronian 0.5-1.5 hinten und gewann dann die beiden letzten Partien. Im zweiten Schnellschach-Match dominierte Nepo. Blitz auch klar zugunsten von Nepomniachtchi, wobei die erste Partie durch Aronians zweiten falschen Damenzug entschieden wurde. 36.Dc8+??? Kg7??? blieb ohne Folgen – dabei war 36.-Dxc8 an sich einfach. 39.Dc7?? statt Damentausch (zuvor war es im Prinzip schlicht und ergreifend ein Dameneinsteller für nichts) wurde bestraft. Unter Siegzwang wählte Aronian in der zweiten Blitzpartie mit Schwarz einen sehr modernen Aufbau, und das ging schief. So viel zu diesem Match, viel mehr wäre möglich. Einen Favoriten hatte es übrigens nicht, beide haben Schnellschach-Elo 2778.

Vachier-Lagrave – Nakamura 1-1 (2.5-1.5, 0.5-2.5, 1.5-1.5 Vorteil Nakamura): Da galt Internet-Spezialist Nakamura als Favorit, auch wenn MVL derzeit die höhere Schnellschach-Elo hat. Aber im Internet spielte der Franzose generell nicht ganz entsprechend seinen Möglichkeiten, auch diesmal hatte er sich für die KO-Runde gerade so und ein bisschen aus Versehen (bzw. mit Schützenhilfe von Le Quang Liem gegen Firouzja) qualifiziert.

In der ersten Partie gewann MVL dann … ein Berliner Endspiel – das versucht inzwischen fast nur noch der Franzose, und manchmal klappt es. Sein Grünfeld in der zweiten Partie war dann zwar misslungen, aber er überlebte. Das wollte Nakamura offenbar nicht noch einmal, daher Trompovsky in der vierten Partie – ebenfalls misslungen und dann doch Remis und damit Satzgewinn für MVL. Danach sagte er – vergleiche später Wesley So – „am zweiten Tag viermal auf Remis spielen kann nur zu Problemen führen“.

Also spielte er zweimal Sizilianisch und hatte zweimal das Nachsehen. Blitz lief dann zunächst nach Wunsch für ihn. In der ersten Partie verkombinierte Nakamura sich mit 37.-Th1+??! – was zunächst einen Turm gewann und dann die Partie verlor. MVL hatte weiter gerechnet, oder auch nicht – jedenfalls fand er danach die richtigen, mehrfach einzigen Züge. Die zweite Partie war wieder ein Trompovsky von Nakamura – wieder misslungen, aber diesmal machte MVL danach so ziemlich alles falsch was man falsch machen kann, damit Ausgleich und Armageddon. Diese Partie war dann immer in der Remisbreite und wurde remis, was für Schwarzspieler Nakamura reichte.

Zwei haben wir noch, das Halbfinale:

Carlsen-Nepomniachtchi 1.5-0.5 (2.5-1.5 + 2-2): In der ersten Partie das erwähnte frühe Geburtstagsgeschenk für Carlsen, erst morgen wird er 30. In einer Variante, die sie offenbar gemeinsam für ein WM-Match Carlsen-Anand analysiert hatten, stellte Nepomniachtchi im 15. Zug eine Figur ein. Ob Nepo danach weitere Geburtstagsgeschenke verteilte oder ob das nun ebenfalls verfrühte Weihnachtsgeschenke waren, dazu kann ich nicht recherchieren. In der zweiten Partie war Carlsens Tendenz, schnellstmöglich die Damen zu tauschen, eigentlich fatal. Es führte zu einem verlorenen Springerendspiel, aber der Norweger entwischte. In der dritten Partie schnappte Nepo sich Grünfeld-typisch Bauern am Damenflügel, Weiß kam die Kompensation dafür abhanden und Carlsen landete so in einem verlorenen Turmendspiel. Wieder entwischte er, Nepo machte das – obwohl generell kein Remisspieler – besser als tags zuvor Wesley So. Warum er dann in der vierten Partie die Baldrian-Variante 5.Te1 gegen Carlsens Berliner wählte ist unklar, vielleicht noch ein Geschenk für den Norweger.

Wie ging es weiter? Tags darauf hatte Carlsen zunächst in taktischen Verwicklungen das Nachsehen – zwar stand er einen (halben) Zug lang auf Gewinn, aber direkt danach auf Verlust, er ist eben kein Taktiker. In der zweiten Partie war Nepos 31.-Dd6 vielleicht ein mouse slip (besser und für ihn leicht vorteilhaft war 31.-Dd5). Nach 32.Td1 gab es die Remisabwicklung 32.-Txh6! 33.Dxg6+! Txg6 34.Txd6 Tg5 – aufräumen und remises Turmendspiel, wobei man nie weiß, ob der Norweger in derlei Stellungen noch einen groben gegnerischen Fehler findet. Stattdessen ging Nepo mit seiner Tante zurück nach c6, immer noch OK für Schwarz. Partieentscheidend war dann 40.-Kg6 41.Dd8 Dg7? – hier musste Nepo wirklich mit 41.-Kf7 seinen letzten Zug annulieren, tat es jedoch nicht.

Die dritte Partie wurde remis, die vierte ebenfalls. Da überspannte Nepo mit Schwarz unter Siegzwang den Bogen aber Carlsen akzeptierte danach sein Remisangebot.

Nepomniachtchis kurzer und knapper Twitter-Kommentar hinterher: „Another lesson: stop giving points for free“ (wieder was gelernt, keine Geschenke verteilen). Lernfähig ist er dabei nicht: auch in der Vorrunde hatte er Nakamura bereits in der Eröffnung einen vollen Punkt geschenkt – was seine eigene Qualifikation für die KO-Runde gefährdete und die von Nakamura einleitete.

So-Nakamura 1.5-0.5 (2.5-1.5 + 2-2): dasselbe Ergebnis bei anderem Matchverlauf. Im ersten Match gewann So eine Angriffspartie und wurde dafür vom kommentierenden Landsmann Sam Shankland gelobt: „I just think people are completely wrong when they think he’s all so solid and strategic. He’s most at home in wild, aggressive positions, it’s just you don’t get those very often in classical chess.“ [Ich denke, Leute haben total Unrecht, dass er sehr solide und strategisch ist. Er fühlt sich vor allem in wilden, aggressiven Stellungen zu Hause, aber die bekommt man mit klassischer Bedenkzeit nur selten.]. So ist in dieser Art, Schach zu spielen, wohl besser als Shankland – da ist er nicht der einzige. Im Match zuvor war er darin klar schlechter als Radjabov. Remis in den anderen Partien des ersten Tages, und danach sagte So „morgen viermal remis, und ich bin im Finale“ – „four draws is more than enough“. Außerdem ging er davon aus, dass Nakamura einen schlechten Tag hatte und tags darauf besser spielen würde.

Vier Remisen klappte dann, wobei zwei Siege auch „more than enough“ gewesen wären und in den ersten beiden Partien hatte er klare Gewinnstellungen. Aber, auch wenn ich mich wiederhole, er ist eben ein sehr talentierter Remisspieler. Die dritte Partie dann Remis ohne Umwege – eine Variante herunterblitzen, die er gegen Nakamura bereits zweimal bei US-Meisterschaften auf dem Brett hatte. In der vierten Partie stand dann Nakamura einen Moment lang besser, und ein Sieg wäre nun „enough“ gewesen für Verlängerung – Blitz und eventuell Armageddon. Aber Nakamura nutzte diese Chance dann nicht und musste sich im Gegenteil strecken, um das Gleichgewicht zu halten. Das schaffte er eigentlich auch nicht, aber mit Mehrfigur erlaubte So dann ein gegnerisches Dauerschach – Ende eines perfekten Tages für ihn, und trotz des So-Zitats tags zuvor wieder kein guter Tag für Nakamura.

Carlsen lobte danach seinen Finalgegner: „He’s a tough opponent, he’s one of the people that I find most difficult to play against, because he rarely makes either tactical or positional mistakes. So he’s just very, very strong and I’ll have to be on top of my game.“ [Er ist ein harter Gegner, einer derjenigen, gegen die ich mich besonders schwer tue. Er macht kaum taktische oder strategische Fehler. Er ist einfach sehr, sehr stark und ich muss mein bestes Schach zeigen.]

Es stimmt zwar, dass Carlsen generell gegnerische Fehler braucht – und bekommt. Aber, wie Carlsen auch erwähnte, eigentlich hatte er zuvor wenig Probleme mit So – zuletzt gewann er Ende Mai im Internet (Lindores Abbey) zweimal 2.5-0.5. Das Original ist eben besser als die Kopie: Carlsen ist der Erfinder des Ähm äh Schachs – vor allem keine Fehler machen. So hat diesen pragmatischen Ansatz dann kopiert. Aber vielleicht kommt es auch anders. Das könnte z.B. der Fall sein, wenn es im Finale doch „wilde, aggressive Stellungen gibt“ – da ist dann Carlsen jedenfalls nicht in einer eigenen Liga.

Übrigens, da ich eingangs Tata Steel Chess erwähnte: Inzwischen werden auf der Homepage Amateurturniere nicht mehr erwähnt, nur noch das Masters („More information … will follow as soon as possible“) – „vor Corona“ wurde Mitte bis Ende November das Teilnehmerfeld genannt, das ist offenbar nun noch nicht „possible“? Außerdem „COVID-19 Guidelines“ = Einschränkungen für Zuschauer und Medien. Wer was letztere betrifft aus dem Ausland anreist und dadurch doppelte Quarantäne riskiert ist unklar – ich jedenfalls nicht. Als Datum steht da weiterhin 15.-31. Januar 2021 – Änderung/Aktualisierung der Homepage nicht ausgeschlossen.