April 20, 2024

Eine kritische Betrachtung des Online-Schachs von GM Hertneck, München

Wie es so schön heißt, soll man aus der Not eine Tugend machen. Die Not, die uns seit 3 Monaten begleitet und zur vorübergehenden Einstellung des Spielbetriebs geführt hat, ist allgemein bekannt, und die daraus abgeleitete Tugend lautet „wir spielen vermehrt online Schach“. Nachdem nun zahlreiche Erfahrungen gesammelt sind, lohnt es sich eine Zwischenbilanz zu ziehen. Betrachten wir in loser Reihung die zahlreichen Aspekte, die damit einhergehen. Immer im Vergleich zu einem gewohnten Turnierumfeld und einer normalen Turnierpartie.

Die Präsenz ist abhanden gekommen!

Dies ist der offensichtlichste Unterschied. Es fehlt das Gegenüber, das nur noch im virtuellen Raum agiert. Es fehlt der Blick auf den Turniersaal, auf die anderen Partien, ja sogar auf unser gewohntes Brett und die (Holz)Figuren. Der gepflegte Austausch vor Ort. Die anschließende Analyse der Partie. Man kann die Atmosphäre im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr greifen, sie bleibt irreal. Zwar befinden sich weiterhin alle Teilnehmer im Turnierraum, und sie führen konzentriert ihre Züge aus, doch teilt sich dieser Raum in viele Einzelräume, die man nicht mehr überblicken kann. Alles konzentriert sich auf das Brett vor Augen, und die Züge, die mit der Maus ausgeführt werden. Und man verliert übrigens auch den Überblick über den Turnierstand.

Alles wird unsäglich beschleunigt

Man hat nicht mehr die Ruhe wie in einem klassischen Turnier, sondern ist ständig gehetzt. Wie schön war es doch, wenn man am Brett sitzend länger ungestört nachdenken konnte. Doch im Online-Schach werden aus gutem Grund schnelle Bedenkzeiten bevorzugt. Der Spieler vor dem Bildschirm wird zu einer Art von Automat, der unter ständiger Zugpflicht steht. Dies kann auch durchaus auf die Gesundheit gehen: merkt man nach einer Blitzsession nicht, wie innerlich unruhig und aufgewühlt man ist? Ist das noch vergleichbar nach einer vier- bis fünfstündigen Turnierpartie, in der man alles gegeben hat und noch in einen Zustand sanfter Erschöpfung fällt? Sicherlich nicht!

Der Gegner, das unbekannte Wesen

Bekanntlich ist es im Internet üblich, Pseudonyme zu wählen. Die wenigsten Spieler registrieren sich unter ihrem Klarnamen, denn viele möchten unerkannt bleiben. Dies führt zu dem unschönen Ergebnis, dass man in neun von zehn Fällen nicht weiß, gegen wen man spielt. Man vergleiche dies mit einem normalen Turnier: es ist ungefähr so, als ob jeder Spieler eine Maske aufhätte, die ihn unkenntlich macht, und auf dem Namensschild am Brett nur noch die Wertungszahl steht. Diese Anonymisierung führt offensichtlich zu einer weiteren Entfremdung vom Geschehen. Man hat das Gefühl, man spielt nur noch gegen eine Zahl, und nicht mehr gegen einen Menschen aus Fleisch und Blut (außer man kennt den echten Namen des Gegners, was natürlich auch vorkommt).

Fehlende soziale Kontrolle

In einer Turnierpartie kommt es selten vor, dass man beschimpft oder mit unfairen Mitteln bekämpft wird. Im Online-Schach ist dies anders, wie wohl jeder schon festgestellt hat. Da wird man in völliger Gewinnstellung ungeniert über die Zeit gehoben. Oder die Gegner spielen absichtlich unsinnige Züge in Zeitnot, um den Anderen aus dem Konzept zu bringen. Manche Gegner lassen ihre Zeit in totaler Verluststellung ablaufen. Und als Krönung des Ganzen wird man oft noch schwach angeredet, wenn man den Chat nicht abgestellt hat. Man hat den Eindruck, dass viele Spieler auf einmal ihre guten Manieren vergessen, sobald sie vor dem Bildschirm sitzen. Eben weil die soziale Kontrolle fehlt. Unfaires Verhalten wird in der Regel auch nicht sanktioniert, da kein Schiedsrichter eingreift. Allenfalls kann man sich beim Admin beschweren.

Betrug gehört untrennbar zum Online-Schach

Immer wieder wird in Online-Turnieren von schwerem Betrug berichtet. Entweder wird aktiv Computerhilfe ausgenutzt, oder ein stärkerer Spieler führt die Züge aus. Gerade im Bereich schwächerer und jüngerer Spieler scheint dies gängig zu sein, doch auch in stärkeren Turnieren kam es bereits vor. Um dies zu unterbinden, hat der englische Großmeister Nigel Davies folgende Vorschläge gemacht, die sehr bedenkenswert sind:

1) Es müsste proprietäre Software vorhanden sein, um eine Verbindung zum Server herzustellen, der im Wesentlichen den Computer übernimmt und andere Prozesse (Engines und Datenbanken) erkennt. Nur diese Software kann eine Verbindung für Turnierspiele herstellen.

2) Die Software erlaubt nur einen Bildschirm auf dem PC und übernimmt die Steuerung der Webcam und des Mikrofons (technische Limitierung).

3) Jeder, der während des Spiels nicht gesehen und gehört werden kann, wird standardmäßig genullt (Präsenzkontrolle).

4) Die Spiele müssen so kurz sein, dass der Spieler jederzeit in Sichtweite der Webcam bleiben muss (Limitierung der Bedenkzeit).

5) Jemand, der technisch versiert ist, beobachtet die Spieler über ihre Webcams (Kontrolleure).

6) Für die Einrichtung eines Kontos sollten echte Namen obligatorisch sein (Verifizierung).

7) Die üblichen „Engine-Prüfungen“ können trotz Vorbehalte gegenüber ihrer Wirksamkeit weiterhin durchgeführt werden (Engine-Kontrollen).

Doch so gut die Kontrollen auch sind, es wird immer jemanden geben, der sie unterläuft. Das Gegenargument lautet natürlich, dass es auch im klassischen Schach Betrug gibt, also vor allem das berühmte Handy auf der Toilette. Das ist richtig, aber keine Entschuldigung für das massenhafte und nur unzureichend sanktionierte „cheating“ im Online-Schach!

Es lohnt sich nicht und es rechnet sich nicht!

Abschließend muss in dieser Aufzählung auch darauf verwiesen werden, dass in der Regel keine oder nur minimale Preisgelder für Online-Turniere ausgeschüttet werden. Der materielle Anreiz entfällt somit weitgehend. Doch angesichts all der oben genannten Nachteile kann man noch einen Schritt weitergehen: Online-Turniere lohnen sich bei genauerer Betrachtung in keinster Weise! Alles was man im klassischen Schach gewohnt ist, entfällt hier mehr oder weniger. Noch pointierter: all das was man an kultiviertem Schach schätzt, kommt abhanden. Was als Nutzen bleibt, ist der sporadische Zeitvertreib. Es ist nicht so, dass der Autor nicht selbst seit 20 Jahren im Online-Blitz unterwegs wäre. Jedoch stets außerhalb von Turnieren. Also nur zum Spaß und zum Zeitvertreib.

Wie steht es also um die Zukunft des Online-Schachs?

Aus Sicht des Autors eher schlecht, denn die aufgezählten Mängel lassen sich auch Dauer nicht abstellen und auch nicht kompensieren. Bei genauer Betrachtung reduziert sich das Blitzen am PC auf eine geistig herausfordernde aber ansonsten eher fruchtlose Tätigkeit. Es findet kein echter Austausch statt, man ist ständig getrieben und wird am Ende noch beschimpft oder betrogen. Man befriedigt sein Ego, wenn man seine Zahl steigert, und ärgert sich maßlos, wenn man wieder mal schlecht gespielt hat. Man wird zum Automaten, der einen Automat bedient, an dessen anderen Ende ein Automat sitzt, und der die Züge durch einen Automaten übertragen bekommt. Alles wird automatisiert und dehumanisiert!