Mai 9, 2024

Relativität im Schach (3)

 

Emanuel Lasker bereicherte das Schach mit neuen Denk- und Handlungsweisen. Der Weltmeister war mit seiner gegnerorientierten Spielauffassung der Zeit weit voraus und führte eine Art Relativitätstheorie in das Schach ein. 
Lasker hat Generationen von Schachspielern beeinflusst, und wenn man genau hinsieht, spielt er bei vielen von uns heute noch mit!

 

Laskers Relativitätstheorie des Schachzuges und -planes

Deshalb bin ich zur Ansicht gelangt, dass man, um die Verdienste Laskers auf diesem Gebiet zu würdigen und um die relativistischen Aspekte und Faktoren des komplexen Spiels hervorzuheben, durchaus von seiner Relativitätstheorie des Schachs sprechen könnte und vielleicht sogar sollte. Der Weltmeister hat tatsächlich eine relativistische Denkweise auf das Schach angewandt. Er kämpfte mit jedem Rivalen auf spezielle Weise -gegnerorientiert -, suchte und wählte oft den relativ zum Gegner besten Plan und Zug. Er beachtete strategische, taktische und psychisch-psychologische Gesichtspunkte gleichzeitig und wusste um die Relativität aller Faktoren. Aufgrund seiner Berücksichtigung der Persönlichkeit, der Vorzüge und Schwächen seiner Kontrahenten entstand etwas, das man als „Relativitätstheorie des Schachzuges und -planes“ bezeichnen kann. Diese besagt: Viele Züge sind nicht an sich gut oder schlecht, sondern erweisen sich erst in Hinblick auf den Gegner als ausgezeichnet, gut oder ungünstig! In den meisten Positionen gibt es mehrere akzeptable Zugmöglichkeiten. Man sollte unter diesen die – relativ zum Kontrahenten – erfolgversprechendste auswählen. Nicht der – objektiv betrachtet – richtig(st)e Zug ist stets der vorteilhafteste, sondern der für den konkreten Gegner unangenehmste (welcher diesen sofort oder langfristig vor die größten Probleme stellt). Auch umfassende Pläne und Zugfolgen können erfolgbringend – je nach der psychologischen Einschätzung des Opponenten – vom theoretisch richtig(er)en Weg abweichen. – Es versteht sich, daß Lasker, wenn er ein Matt sah, dieses mit den objektiv richtigen Zügen, die in diesem Fall auch für den Gegner die unangenehmsten waren, herbeiführte. Oft ist der theoretisch beste Zug auch der stärkste, aber nicht immer!

Wie man sieht, geht es hierbei nicht um Gravitation oder Lichtgeschwindigkeit, und auch nicht um Quanten; eher um ein mentales Bezugssystem in Hinblick auf relative Wirkungen im Schach. Greene bemerkt zur Relativitätstheorie der Physik (2000, S. 19-20): „Nach der speziellen Relativitätstheorie dürfen wir uns Raum und Zeit nicht mehr als einen universell festgelegten Rahmen vorstellen, den jeder auf die gleiche Weise erlebt.“ Ähnliches gilt auch für (subjektive) Schachbetrachtungen.
Gleichwohl ersann Einstein ein Bezugssystem, das für alle Bewegungen galt. Lasker entwickelte (s)ein spezielles Konzept, mit dem er alle möglichen Gegner und besondere Umstände berücksichtigte und mit entsprechenden eigenen Schachaktivitäten in Beziehung setzte. Sein subjektives Konzept wurde mittlerweile in den Köpfen und Zügen von unzähligen SchachspielerInnen realisiert und bewusst oder unbewusst zu einem Prinzip für Denken und Handeln im Schachwettkampf.

Der Einstein des Schachs / Ergänzung und Vereinigung von Prinzipien und Ansätzen

Schachmeister Spielmann (1936/1989, S. 3) nannte Steinitz den Newton des Schachspiels (weil jener allgemeine Schachprinzipien aufstellte). Wenn ich diesen Vergleich aufgreifen darf, könnte man Lasker als den Einstein des Schachs bezeichnen. Er erkannte, dass im Schach vieles relativ ist – vor allem zum Gegner. Ähnlich wie Einstein revolutionierte Lasker die Grundlagen seines Fachgebietes, oder besser gesagt, er beschleunigte die Evolution des Schachs.


Die Relativitätstheorie Einsteins ersetzte die (absolute) Theorie Newtons nicht, sondern ergänzte sie. Einstein erkannte, dass Raum, Zeit und Bewegung keine absoluten, sondern relative Größen sind (abhängig vom Beobachter und Zeitpunkt der Beobachtung). Viele Phänomene des Kosmos lassen sich aufgrund der Newtonschen Gravitationsgesetze dennoch gut beschreiben, erklären und voraussagen, wie die Umlaufbahnen der Planeten und Sonnenfinsternisse. Andere Vorgänge können wiederum mit der Relativitätstheorie am besten verstanden werden (z.B. die Ablenkung des Lichts durch Materie, die Umwandlung von Energie in Materie und umgekehrt). Beide Denkansätze (der absolute und der relativistische) haben ihre Gültigkeit und schließen sich gegenseitig nicht aus. In der modernen Physik wird eine Vereinigung der wesentlichen Konzeptionen und Ansätze angestrebt (siehe z.B. Hawking 1988, Weinberg 1993, Greene 2000, Rovelli 2017). Für die Psychologie versuche ich etwas Ähnliches (Munzert 1988, 1998 bzw. 2012, 2023), meine ersten ausführlichen Demonstrationsbeispiele sind hierbei Schach, Sport und ein umfassendes psychologisches Menschenbild

Vereinigung (Unification) der Psychologie – aufgezeigt an Schach & Sport

(Munzert 1991, 1993a,b, 1995, 1996, 1998b). 

 

Sport und die Vereinheitlichung der Psychologie (I)

 https://hesse.projects.gss.ucsb.edu/papers/munzert.pdf

 

Wie in der Physik können auch im Schach allgemeine Prinzipien (z. B. über die Beherrschung des Zentrums, die Bedeutung des Läuferpaares) und relativistische Denkweisen (der objektiv beste Zug führt zu Stellungen, die dem Gegner besonders gut liegen, man macht ihn deshalb nicht) nebeneinander bestehen und sich ergänzen. Sie sind kompatibel und komplementär. Üblicherweise sind während einer Partie sowohl die annähernd objektive als auch die relativistische Betrachtung und Beurteilung relevant; hier herrscht kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch! Im Kopf des Schachspielers wirkt alles ganzheitlich zusammen.

Wird fortgesetzt

Dr. Reinhard Munzert

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