Es gibt noch einen ausführlichen Bericht zur Schnellschach-WM. Carlsen und auch seine Arroganz hinterher werde ich durchaus würdigen, aber auch Ursachenforschung betreiben wie sein – vom Ergebnis her souveräner – Turniersieg zustande kam. Aber auch andere werden im Bericht erwähnt, und auch das parallele Turnier für Elo unter 2600.
Wie kein anderer beherrscht Carlsen die Kunst des groben gegnerischen Fehlers – die gab es durchaus auch in anderen Partien, aber außerdem beherrscht Carlsen „keine Fehler machen“. Das geht vielleicht etwas auf Kosten von Ideen und Kreativität – aber das braucht man nicht unbedingt, und dafür hat er auch seine Sekundanten (die allerdings Stellungen teilweise nicht weit genug für ihn analysiert hatten). Außerdem hat Carlsens Strategie, starke Gegner an den ersten beiden Tagen weitgehend zu vermeiden, prima funktioniert. Außerdem Losglück – ein bisschen schon in Runde eins, vor allem aber bekam er in der entscheidenden Turnierphase zwei IMs (wenn ich seinen Gegnern in Runde 9 und 13 IM-Niveau bescheinige sind IMs allerdings vielleicht zu Recht beleidigt). Dann noch mitunter passende Ergebnisse an den Nachbartischen – gemeint sind nicht nur Kurzremisen, über die Carlsen lästerte. Gegen diese geballte Klasse war die Konkurrenz schlicht und ergreifend machtlos.
Ein Privileg hatte Carlsen dabei doch nicht: laut Turnierseite spielte er eine Runde mehr als der Rest des Teilnehmerfelds: am zweiten Tag vier Siege und zwei Remisen – dabei wurden am Freitag, wie auch am Donnerstag und auch am Samstag, nur fünf Runden gespielt. Vielleicht gewann er auch noch eine freie Partie gegen seinen Papa, dieses Ergebnis wurde aber (wie ungerecht) nicht in die Turniertabelle eingetragen. [Spass beiseite – so etwas sollte man eigentlich, auch am fortgeschrittenen Abend, beim Korrekturlesen entdecken. Dafür braucht man vielleicht eine Brille, dann sollte es keine Carlsen-Fanbrille sein. Es zeigt übrigens auch, dass man Texte anderer Quellen nicht ungeprüft übernehmen sollte.]
Ein anderes Privileg hatte er, aber bevor ich dazu komme erst der übliche Hinweis: Fotos ab Turnierseite auf Flickr, fotografiert hat vor allem Lennart Ootes und mitunter Maria Emelianova (Titelbild, auch später wird sie dann namentlich erwähnt).
Carlsen durfte, egal was er anstellte, durchgehend an Brett eins spielen. So konnte er auch die Panne seines Landsmanns Aryan Tari vermeiden, der einmal zu Rundenbeginn sechs Minuten lang sein Brett suchte – ist auch verwirrend, in jeder Runde an einem anderen Brett zu spielen, aber meines Wissens haben alle anderen Spieler diese Aufgabe gelöst. Ein festes Brett gibt es meines Wissens sonst für Spieler mit Handicap, z.B. wenn ein Tisch besonders rollstuhlfreundlich ist. Carlsen leidet zwar, bzw. geniesst seine unheilbare Arroganz (das haben ihm seine PR-Berater beigebracht?) aber das war nicht der Grund. Die Turnierseite nannte den Grund:
An diesem geschniegelten Herrn lag es nicht, sondern ….
an seinem Kameramann, für den es keinen Dresscode gibt. Das norwegische Fernsehteam hatte offenbar auch fest installierte Kameras und war zu faul, diese zwischen den Runden zu bewegen. Und sie interessieren sich nun einmal brennend für Carlsen und nur nebenbei ein bisschen für Schach.
Hier (Foto Maria Emelianova) betrachtet der Herr schon einmal den Pokal, den sein Liebling am Ende bekommen sollte.
Höchste Zeit für den Endstand im Turnier: Carlsen 12.5/16 11.5/15, Firouzja, Nakamura, Artemiev 10.5/15, Aronian, Dominguez, Duda, Dubov, Korobov, Anton Guijarro, Yu Yangyi 10, usw. – hier breche ich bereits ab, auch wenn noch diverse bekannte Namen fehlen. Abschlusstabelle nach Buchholz sortiert ergibt ein anderes Bild: Wang Hao und Mamedyarov 133.5, Aronian 130.5, Firouzja 130, usw. (Carlsen 128.5). Das ist natürlich etwas unfair Carlsen gegenüber, da er nicht gegen sich selbst spielte. Aber es zeigt auch, wer lange vorne dabei war und zum Ende zurückfiel – Wang Hao und Mamedyarov waren die klar Wertungsbesten mit 9/15 bzw. 9.5/15.
Nach gegnerischem Eloschnitt hat Carlsen beachtliche 2719, gleichauf mit Dominguez und knapp vor Wang Hao (2718). Bei Carlsen lag es daran, dass er am dritten Tag noch gegen Vachier-Lagrave (2873) und Nakamura (2819) spielte. MVL war vielleicht der einzige, der Carlsen wirklich forderte. Die abschliessende Partie gegen Nakamura hat dann kaum stattgefunden – diesmal nicht, weil Nakamura einfach schlecht spielte (das wäre auch des Absurden zuviel gewesen) sondern weil er schnell mit Remis einverstanden war. Klarer „Sieger“ in dieser Kategorie war allerdings Iia Smirin (gegnerischer Eloschnitt 2743) – der Zweite neben Firouzja, der weit oberhalb seines Platzes in der Setzliste landete, und zwischenzeitlich schien noch mehr drin (bei Firouzja war es eher umgekehrt). Bei beiden lag es natürlich auch daran, dass im Schweizer System bei Punktgleichheit immer die untere gegen die obere Elohälfte spielt.
Nun eine Reihe Spielerfotos, ich sortiere die mal alphabetisch:
Aronian informiert sich vor einer Runde.
Artemiev im Alphabet (und in der Setzliste) hinter, in der Abschlusstabelle vor Aronian. Es lag an einem kräftigen Schlusspurt (4/5 am dritten Tag, drei Siege nacheinander in Runde 12-14).
Nochmal Carlsen, einer muss den Mr. Cool machen – Topalov hat nicht mitgespielt, Aronian war chancenlos da er (Dresscode) auf seine bunten Hemden verzichten musste.
Titelverteidiger Daniil Dubov konnte diesmal nicht ganz um Medaillen mitspielen – wie Carlsen ungeschlagen, aber zu viele Remisen. Außerdem hat er ja auch an Carlsens Spitzenbrett mitgespielt, wenn auch mitunter nicht lange genug.
JK Duda (Foto Emelianova) – im Alphabet knapp hinter, nach Wertung vor Dubov. Er blieb nicht ungeschlagen – dass es nur zwei Niederlagen waren grenzte dabei an ein mittelgrosses Wunder. Äusserlich wirkt er brav, am Schachbrett randaliert er des öfteren (bzw. das machen die von ihm gelenkten Figuren).
Alireza Firouzja (Foto Emelianova) – zu ihm später mehr.
Le Quang Liem (Foto Emelianova) belegte Platz 13 und hat dabei mit entschieden, wer am Ende Gold und wer Silber bekam.
Mamedyarov war an 12 gesetzt und wurde Zwölfter – passt doch, aber da war mehr möglich. Drei Niederlagen für ihn – eine, weil der Gegner gut spielte, eine weil er selbst schlecht spielte und eine weil er viel riskierte und dabei den Bogen überspannte.
MVL – am Ende ein für ihn enttäuschendes Turnier.
In einem Interview meinte der Franzose, dass er sich bei der Schnellschach-WM auch mit Leuten unterhalten kan, die er sonst nur selten trifft. Diesen Herrn meinte er wohl nicht, vielleicht diskutieren sie ihre Pläne für Frühjahr 2020 – „wem sekundierst Du im Kandidatenturnier?“.
Nakamura am Ende relativ weit vorne – Ursachenforschung kommt später.
Nepo(mniachtchi) und Svidler zeige ich mal gemeinsam, Foto Emelianova.
An Altmeister Shirov lag es jedenfalls nicht, dass Nakamura weit vorne landete.
Altmeister Smirin lag nach dem ersten Tag mit 4.5/5 auf dem geteilten ersten Platz. Dann fiel er etwas zurück, dann kam er wieder und am Ende fiel er wieder etwas zurück. Mit Platz 15 konnte er, an 95 gesetzt, zufrieden sein – höhere Erwartungen, Hoffnungen oder Träume hatte er schon nach dem ersten Tag relativiert.
Wang Hao – lag es an vielen Remisen (darunter einige Kurzremisen), dass der Chinese nicht weiter vorne landete, oder doch an zwei Niederlagen gegen Dominguez und Firouzja? Und schon sind wir am Ende des Alphabets – jedenfalls fast: es gibt noch jedenfalls Xu Xiangyu, Xu Yinglun, Yuffa und Zubov. Bis auf Zubov spielten sie aber keine wesentliche Rolle im Turnier.
Nun zunächst zu Carlsens Auftritt. Warum hatte er in Runde eins quasi Losglück? Nun, Schnellschach-Elozahlen sind offenbar, sicher wenn es um ein paar Pünktchen im Bereich ca. 2560 geht, bedingt aussagekräftig. An einigen Brettern dahinter gab es bereits GM-Duelle wie Tari-Korobov, Grischuk-Bluebaum, Fedoseev-Potkin, Sethuraman-Artemiev, Dominguez-Jumabayev (relativ bekannter und aktiver Kasache), Dubov-Piorun, usw. . Nicht alle Favoriten lösten diese „Plichtaufgaben“. Die erste komplette Überraschung gab es aber erst an Brett 24 Atabayev-Wojtaszek 1-0. Radek Wojtaszek hat dann auch in Runde 2 und 3 verloren, erst danach lief es besser für ihn.
Carlsen bekam einen gewissen Azamat Utegaliyev, wer ist das denn? Viel konnte ich nicht herausfinden – ein titelloser Kasache, der eher sporadisch und dann vor allem in Kasachstan spielt.
Nach der Partie meinte der Norweger dann auch „mein Gegner spielte die Züge, auf die ich gehofft hatte“. Konkret meinte er „er hat so schlecht gespielt, dass auch ich angreifen und sogar opfern konnte“. Vachier-Lagrave hatte an Brett 2 mit dem spanischen IM Castellanos auch einen ziemlich unbekannten Gegner, aber er war dann mit Remis durchaus gut bedient. Generell hatte der Franzose einen recht holprigen Start: der geduldige Endspielsieg in Runde 2 gegen FM Tsog-Ochir Tengis (2003) aus der Mongolei aus der Rubrik „irgendwann wird so ein Gegner schon Milch geben“, der Sieg in Runde 3 gegen den nächsten Spanier GM Alonso Rosell aus mehr als verdächtiger Stellung heraus – trickreich ist der Fraanzose, aber offenbar hat er Probleme mit Spaniern (später noch ein Remis gegen Shirov). Ab Runde 4 bekam er Gegner, die er jedenfalls vom Namen her kannte. Zurück zu Carlsen:
In Runde 2 zeigte sich eines zum ersten Mal: Seine Sekundanten können unternehmungslustige Eröffnungen noch so ausgiebig für ihn analysieren, irgendwann ist Carlsen auf sich alleine gestellt und dann tut er sich in Stellungen, die ihm eigentlich gar nicht liegen, schwer. Gegen Melkumyan verdaddelte er dann in einem Dubov-Tarrasch seinen vorgeschobenen h-Bauern und konnte froh sein, dass der Gegner ihm kurz danach ein Dauerschach gönnte.
Ab hier sass Carlsen einige Zeit zu Unrecht am Spitzenbrett, auch wenn er in Runde 3 seine ganze Klasse zeigte. Boris Savchenko hatte früh einen Bauern geopfert oder vielleicht eingestellt, jedenfalls hatte er dafür Benkö-artige Kompensation. Hmm das ist kompliziert, was machte Carlsen dann? Zu einem Remisendspiel vereinfachen, vielleicht macht der Gegner ja einen Fehler. Dieser Plan ging auf, Savchenko machte einen FEHLER. Der Remisweg war vielleicht schmal und nicht offensichtlich, aber das war kein Grund für 56.-Td4??? . Zu beeindruckender Endspieltechnik ohne offensichtliche gegnerische Hilfe siehe übrigens Shirov-Nakamura 1-0 – auch zu seinen besten Zeiten war Shirov nicht nur taktischer Wirbelwind, sondern auch im Endspiel stark.
Für Carlsen danach ein auch etwas holpriges Remis gegen Mamedov, und noch ein Sieg gegen Shimanov – der verbundene weisse Freibauern am Damenflügel zuliess, Benkö-Kompensation nicht vorhanden. Carlsens b-Bauer machte es dann ganz alleine.
Tags darauf hatte Carlsen mit Wang Hao den ersten Gegner mit Elo über 2700. Nach den Aufregungen tags zuvor zelebrierte er nun sein „Ähm äh ich mach nichts mach Du doch einen Fehler“ Schach – der Chinese machte keinen Fehler, es wurde remis.
Peter Leko, der das mit Almira Skripchenko kommentierte, hatte eine Carlsen-Fanbrille. Er schwafelte etwas von anfälligem schwarzen König und „wenn Wang Hao schlecht steht, schnappt er sich wenigstens einen Bauern“. Dann hat er aber die Fanbrille abgesetzt und meinte „Carlsen muss sehen, wie er das Remis halten kann“. „Ob“ war aber eher kein Thema, Turmendspiele sind immer Remis – außer man selbst (oder bevorzugt der Gegner) macht einen Fehler.
Ob der russische Livekommentar von Sergei Shipov objektiver war, das weiss ich nicht – diese Sprache beherrsche ich nicht.
In Runde 7 war Carlsen mit einem Remis gegen Rakhmanov wieder eher gut bedient, Turmendspiele sind eben remis. Nun hatte er einen vollen Punkt Rückstand auf die Führenden Mamedyarov und Wang Hao.
Gegen Laznicka (Foto Emelianova) hatte Carlsen tatsächlich mal eine Idee auf GM-Niveau. Nach 23.c4!? d4? ist dieser schwarze Freibauer zwar gedeckt, aber ungefährlich – da vom Sd3 sicher kontrolliert. Hexerei war es nun auch wieder nicht. Dagegen hatte Weiß nun eine bewegliche Bauernmehrheit am Damenflügel. Besser war hier 23.-dxc4, was letztendlich zu einem leicht (aber nur leicht) schlechteren Endspiel geführt hatte. Dazu meinte Leko sinngemäss „wenn man gegen Carlsen den besten Zug macht, verliert man doch da man später einen Fehler machen wird. Dann kann man auch gleich einen Fehler machen“.
Drei Partien dahinter bzw. an den regulären Spitzenbrettern endeten kurzzügig Remis, Carlsen hatte etwas zu meckern. Das sei zynisch, er hoffe dass sie dafür nicht belohnt würden. Diese Spieler hatten sich eben bereits gegen starke Gegner verausgabt, der Norweger bisher noch nicht. Wollte er vielleicht seinen eventuellen, und jedenfalls zu diesem Zeitpunkt im Turnier dann eher unberechtigten, Turniersieg „begründen“?
Runde 9: vorne das echte Spitzenbrett MVL-Mamedyarov, dahinter das Pseudo-Spitzenbrett Zubov-Carlsen. Wir bleiben zunächst bei Carlsen: der russische Schnellschach-Spezialist hatte ihn bei der entsprechenden WM letztes Jahr besiegt. Auch diesmal machte er Druck, aber dann konnte Carlsen sich mit – nicht einmal perfekt vorgetragenem – reaktivem Schach durchsetzen:
Wie gut Zubov davor stand ist schwer zu sagen. Carlsen war sich offenbar keinerlei Gefahren bewusst – vielleicht, da er eben kein Dynamiker ist, vielleicht auch da der Gegner dann komplett zusammenbrach. Eine gute Nachricht für Carlsen auch am Nachbarbrett: MVL gewann glatt gegen den zuvor führenden Mamedyarov, nach der Runde führte so ein Quartett aus Wang Hao, Le Quang Liem, Carlsen selbst und dem Franzosen.
Ein kleiner Exkurs:
Tags zuvor endete in Runde 5 Dubov-Zubov remis (nicht allzu umkämpft). Das kennt man von Muzychuk-Muzychuk (gab es in diesem Turnier nicht), Kosintseva-Kosintseva (gibt es nicht mehr) oder auch Mamedyarov-Mamedov. Rein äusserlich sind Dubov und Zubov aber keine Brüder – Mamedyarov und Mamedov auch nicht, aber da könnte man es äusserlich vermuten oder unterstellen. Aserbaidschan ist aber eine grosse Schachfamilie, in diesem Turnier gab es noch eine: die fünf Spieler aus Saudi-Arabien, die sich zusammen mit zwei Brasilianern auf den hintersten Plätzen einsortierten, spielten gegeneinander konsequent Remis – so hatte keiner am Ende enttäuschende 0/15.
Zurück zu Carlsen:
In der nächsten Runde hatte er gegen IM Le Quang Liem leichtes Spiel (Foto Emelianova). Ja ich weiß, der Vietnamese hat den GM-Titel, aber so spielte er nun wirklich nicht. Nach für Schnellschach reiflicher Überlegung (1 1/2 Minuten) entkorkte er 12.-Dd7???, es kam 13.Lxf5 exf5 14.d5 (auf e5 stand bereits ein weisser Bauer), und der Rest war für Carlsen locker-leicht wie bei einem Simultan. Nur unwesentlich schlechter wäre 12.-Dd6???? 13.exd6 gewesen. Der Leser mag einwenden, dass das doch zu krass wäre, und hat Recht – aber siehe später Runde 12.
Da Wang Hao – MVL am Nachbarbrett Remis endete (kurzzügig, laut MVL war der Chinese wohl einfach müde) übernahm Carlsen erstmals die alleinige Führung im Turnier. So einfach wie gegen Le Quang Liem war es dann am nächsten Tag nur einmal, aber erst die für ihn schwerste Partie im Turnier:
Seine Freunde vom norwegischen Fernsehen wollten Carlsen helfen: Interview mit MVL direkt vor der Partie!? Das gehört sich eigentlich einfach nicht, aber der Franzose war dazu bereit – später auch zu einem langen offiziellen Interview für die Turnierseite zwischen den Runden.
Carlsen weiß, wie er derlei verhindert: erst kurz vor Rundenbeginn erscheinen (siehe Countdown im Hintergrund).
Dann wurde gespielt, im Hintergrund auch Dominguez-Wang Hao (kein Kurzremis für den Chinesen sondern eine Niederlage). Erst hatte MVL in einem Sveshnikov-Sizilianer (neue Hauptvariante mit 7.Sd5) jedenfalls optisch Oberwasser, dann kippte die Partie – wann und warum genau, das sprengt den Rahmen dieses Beitrags. 44.-Td2 war für Carlsen gewinnträchtig, aber so weit hatten seine Sekundanten das nicht analysiert – also 44.-Dd2, Damentausch und Remisendspiel. MVL machte keinen Fehler, also remis.
An Brett 2 Nakamura (7) – Duda (7.5) und Brett 3 Dominguez (7) – Wang Hao (7.5) gewannen jeweils die Weißspieler, die richtigen aus Carlsens Sicht denn so behielt er die alleinige Führung. Noch lieber wären ihm vielleicht Kurzremisen gewesen, dann hätte er wieder lästern können. Aber selbst für Carlsen ist das (Schach-)Leben nicht immer ein komplettes Wunschkonzert.
MVL, der sich mit einer Niederlage schon halb abgefunden hatte, war hinterher guter Dinge – jedenfalls bis auf weiteres. Es passte eben nicht zu Carlsens Turnierstrategie, einen starken Gegner ohne dessen offensichtliche Hilfe zu besiegen.
Nächste Runde Schwarz gegen Aronian: wieder ein Dubov-Tarrasch, wieder kam ihm sein h-Bauer abhanden. Diesmal hatte er Kompensation jedenfalls im Sinne von „nicht einfach für Weiß, den Mehrbauern zu verwerten“. Carlsens tiefes Konzept beinhaltete Aronians 28.g4 (Versuch, den Mehrbaueren zu nutzen, schwächt den Königsflügel) und auch 31.Lb2-a3? (verschenkt den Bauern auf f3 und gibt der schwarzen Dame danach auch das Feld c3). Nun hatte Carlsen klaren Vorteil, vergab ihn aber wieder komplett. Aronian verzichtete darauf, Remis zu forcieren, und dann kam 59.Db7+???? Sxb7 0-1. Direkt nach Partieende hat Maria Emelianova fotografiert:
Keine Ahnung, ob Carlsen sich für das Geschenk bedankt – bringt man verwöhnten Kindern bei, „danke“ zu sagen? Dame direkt diagonal vor einen Bauern gehörte nicht zu Carlsens Arsenal grober gegnerischer Fehler, Dame schräg vor einen Springer gehörte dazu.
Aronians Reaktion: „Was soll man machen, Carlsen ist einfach großartig“.
Carlsens Reaktion: Er nimmt das Weihnachtsgeschenk zur Kenntnis.
Das war immer noch nicht alles, denn in der nächsten Runde hat IM Mamedyarov mit 19.-Se4??? Carlsen einfach so einen Bauern geschenkt, und es war ein wichtiger Zentralbauer auf d5. Carlsen war nun praktisch durch, in der nächsten Runde dann auch ein lahmes Remis gegen Dominguez.
Und auch Nakamura wollte gegen Carlsen nicht verlieren, stattdessen ein recht schnelles Remis (Foto Emelianova).
Etwas kürzer zu den Spielern, die dann Platz zwei teilten, der Wertungsreihe nach: Firouzja hatte an den ersten beiden Tagen zwei Siege gegen 2400er, zwei glatte Siege gegen Korobov und Karjakin und zwei ebenso glatte Niederlagen gegen Duda und Svidler. Der letzte Tag lief dann nach Wunsch für ihn – reichlich gegnerische Hilfe dabei zeigt, dass er eventuell Weltmeisterpotential hat: Inarkiev hat einfach so eine Qualität eingestellt. Le Quang Liem wollte nicht nur gegen Carlsen schlecht spielen – also hat er an diesem Tag zunächst gegen Aronian (in besserer Stellung) eine Qualität eingestellt. Gegen Firouzja war es ein absichtliches und einigermassen korrektes, jedoch unnötiges Qualitätsopfer – und dann übersah der Vietnamese eine ebenso hübsche wie relativ simple Kombi. Wang Hao verlor gegen Firouzja ein Remisendspiel mit ungleichfarbigen Läufern, und dann war da noch die letzte Runde gegen Mamedyarov – ein wilder Schlagabtausch in dem der Azeri sich am Ende verzockte.
Wohin die weitere Reise für Firouzja gehen wird ist unklar. Sowohl elomässig – wird er wirklich besser als der (das war vor einigen Jahren) „zukünftige Weltmeister“ Wei Yi? Als auch verbandsmässig: neben Frankreich erwähnte der Präsident des iranischen Schachverbandes auch die USA, aber das war vielleicht Propaganda – „er wird zum Feind überlaufen“. Im Gegensatz zu Italien oder auch den Niederlanden fördern die USA ja keine Import-Talente, sondern kaufen fertige Weltklassespieler: Caruana bekam erst mit Elo 2800+ Angebote von Rex $inquefield. Momentan spielt Firouzja für FIDE – Carlsen dagegen weiterhin für Norwegen, auch wenn er (da er wie sein Kumpel Kasparov „falsche“ Ergebnisse demokratischer Wahlen nicht akzeptieren kann) aus dem dortigen Schachverband ausgetreten ist.
Sagte ich USA? Nakamuras Fans, die er wohl immer noch hat, konnten am Ende zufrieden sein. Drei seiner Siege erwähne ich kurz. In Runde 10 überlegte Gegner Sergei Zhigalko zehn (10) Minuten für seinen 19. Zug – der Plan, in späterer Zeitnot den Faden zu verlieren, hat dann funktioniert. Noch besser wäre es für Naka gewesen, wenn Carlsen in Runde 15 gegen ihn fünfzehn Minuten überlegt hätte = Zeitüberschreitung. Aber der Norweger bekommt ja Geschenke und verteilt keine. Tags darauf hat dann Duda gegen Nakamura sinnlos seine Dame geopfert – vielleicht schämte er sich für zuvor zwei Siege aus Verluststellungen gegen Shirov und Ponkratov. Dann gewann Nakamura noch gegen Smirin – da hatte er zwar mit Schwarz durchgehend etwas Oberwasser, aber am Ende musste der Gegner kräftig mithelfen.
Dann war da noch Artemiev, der ebenfalls von hinten kam – drei Siege nacheinander in Runde 12-14. Gegen Guseinov zunächst ein Springer-Scheinopfer auf f7 nebst wildem Galopp des anderen Gauls: Se5+ – xc6(da stand ein Läufer)-b8-a6-c7-e6-f8-g6-e5+-f3 – Pferd zurück im Stall, Mehrbauer konsolidiert. Da er das Endspiel dann nicht perfekt behandelte, musste er es später nochmals gewinnen. Gegen Ponkratov Mattmotive mitten auf dem Brett bei reduziertem Material – mit Dank an den Gegner, der ein damenloses Mittelspiel wie ein Endspiel behandelte und seinen König freiwillig aktivierte. Und dann noch ein Drama aus Sicht von MVL, der wohl davon ausging, dass sein 13.-Dxg2+ ein theoretisch bekanntes und spielbares Damenopfer für zwei Leichtfiguren war. Das wäre mit einem Turm auf d8 der Fall (zuvor nicht 12.-Tac8 sondern 12.-Tad8), so funktionierte es jedoch gar nicht.
Nach all diesen Aufregungen in der letzten Runde ein Kurzremis gegen Landsmann Dubov.
Das Damenturnier werde ich nun – wenn überhaupt – separat behandeln, bzw. nur eine kurze Zusammenfassung: Bei den Männern (politisch korrekt „offenes Turnier“) konnte man sich auf Carlsen und seinen Dusel verlassen, bei den Damen ging es dagegen drunter und drüber.
Kurz zu deutschen Ergebnissen in beiden Turnieren: das prozentual beste erzielte Elisabeth Paehtz mit 7/12 im Damenturnier. Mit Lagno und Harika hatte sie zwei nominell starke Gegnerinnen und verlor zweimal, gegen ihr nominell unterlegene Spielerinnen punktete sie oft aber nicht immer. Zufriedener war vielleicht Daniel Fridman – bei einer Reihe starker Gegner zeigte er vor allem, dass er Remis spielen kann (klappte oft aber nicht immer), außerdem Siege gegen Fedoseev, Jobava und zwei russische IMs. Insgesamt 8.5/15. Bluebaum, Donchenko und Meier alle 7.5/15 – Bluebaum im Rahmen der Eloerwartung, die beiden anderen darunter. Das lag an den eigenen Elozahlen und an den Gegnern, die sie bekamen – was wiederum daran lag, wie sie die 50% über die Runden verteilten.
Zurück zu den Damen: Annmarie Muetsch und Josefine Heinemann beide 4.5/12, auch hier auf unterschiedliche Weise. Muetsch hatte nur nominell bessere Gegnerinnen und punktete ab und zu, Heinemann hat ihr Punktekonto am dritten Tag verdreifacht – aus 1.5/8 wurde 4.5/12. Geholfen hat der Sieg gegen Freilos, das zuvor allerdings auch gegen Elo deutlich unter 2000 chancenlos war – davon beflügelt bzw. gut ausgeschlafen (so begann ihr Schachtag erst gegen 16:00 Ortszeit) noch zwei Siege am Brett.
Carlsen gab hinterher Interviews und war gut gelaunt. Das ist auch nach Turniersiegen nicht immer der Fall, aber diesmal war er mit seinem Spiel zufrieden – mit dem seiner Gegner ohnehin.
Er demonstrierte auch seine Arroganz – chess24 nennt es „keine falsche Bescheidenheit“: „Ich denke, auch wenn die Tage lang sind, kann man in allen Partien alles geben. Aber ich denke, es hilft auch dass ich besser bin als die anderen! Daher ist es für mich einfacher, auf Sieg zu spielen. Die anderen riskieren vielleicht mehr, wenn sie auf Sieg spielen müssen. Ich denke, das ist einfach die brutale Wahrheit – wenn man etwas besser ist als die anderen, kann man sich mehr Risiko leisten.„
Wann hat Carlsen eigentlich gezielt auf Sieg gespielt? Abgesehen von den Partien gegen relativ schwache Gegner am ersten Tag eigentlich nur gegen Laznicka. Wann hat er etwas riskiert? Am ehesten gegen Zubov, aber das war a) vom Gegner aufgezwungen und b) war er sich dessen offenbar gar nicht bewusst. Natürlich ist es auch riskant, Eröffnungen zu spielen die ihm – auf sich alleine gestellt – eher nicht liegen und die seine Sekundanten nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt analysieren können. Aber auch das ging gut.
P.S.: Nun mag es wieder negative Kommentare hageln. Gerne, aber bitte sachlich bleiben und erklären, wo ich Unrecht habe. Und vielleicht auch untersuchen, wo ich Recht habe. „Ave Carlsen Halleluja“ gibt es ja zur Genüge auf den einschlägigen kommerziellen Seiten.
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