Dezember 2, 2024

Interview des Monats mit «Comebacker» Mario Steiner: «Durchs Online-Schach begann ich wieder zu spielen»

Markus Angst Was man weiss: Mario Steiner hat das Hauptturnier II an den diesjährigen Schweizer Einzelmeisterschaften in Flims mit dem Punktemaximum gewonnen. Was man nicht weiss: Wie hat der 30-Jährige dies erreicht? Und: Warum spielt er nach elfjähriger Pause wieder Schach?

Mario Steiner: «Ich habe in den letzten zwei Jahren über 250’000 Online-Partien und rund 200 klassische Partien am Brett gespielt.»

Gratulation zu Ihrem Sieg an den Schweizer Einzelmeisterschaften in Flims.

Vielen herzlichen Dank!

Sie haben sogar das Punktemaximum erreicht. Waren Sie darüber überrascht, oder war es Ihr Ziel, um den Turniersieg mitzuspielen?

Überrascht war ich weniger. Ich würde sagen «sehr erfreut». Mein Ziel war es, aus jeder Partie das beste Ergebnis rauszuholen. Der Turniersieg war ein schöner Nebeneffekt.

Was machen Sie konkret, um die mentale Stärke am Brett zu halten, wenn Sie vor dem Sieg stehen?

Für mich ist die mentale Einstellung über die gesamte Partie hinweg entscheidend. Die Haltung, mit der ich in ein Spiel starte, zieht sich durch die gesamte Partie hindurch. Ich versuche neutral in jede Partie zu gehen, mit dem festen Glauben zu gewinnen. Dabei habe ich gelernt, mich nicht von ELO-Zahlen beeinflussen zu lassen. Ein Sieg ist in jedem Spiel erreichbar. Die Anfangsposition ist ausgeglichen – alles ist möglich.

Es gibt Spieler(innen), die «gewonnene Partien» wieder aus den Händen geben. Haben Sie eine Technik, wie man das vermeiden kann?

Ja, das ist das Tückische am Schachspiel. Man sagt nicht umsonst, eine Partie ist erst entschieden, wenn sie vorbei ist. Ich versuche konzentriert und fokussiert zu bleiben, bis das Resultat auf dem Formular geschrieben steht. Ich habe wegen kleineren oder auch grösseren Unachtsamkeiten schon unzählige Partien aus der Hand gegeben. Wenn man auf dem Brett in Führung liegt, neigt man dazu, Fehler zu machen. Wenn man hingegen schlechter steht, hat man weniger zu verlieren und neigt dazu, riskantere Manöver zu spielen. Deshalb ist das eine sehr wichtige Phase, die ich versuche, besonders ernst zu nehmen. Es gibt nichts Gefährlicheres als einen Gegner, der nichts mehr zu verlieren hat.

Wie geht es nun weiter? Wollen Sie an der SEM 2025 in Disentis das Hauptturnier I gewinnen?

Ich kann derzeit noch nicht definitiv sagen, ob ich an der SEM 2025 mitspielen werde. Ich wäre gerne dabei, weil mir dieses Format sehr gut gefällt.

Werfen wir einen Blick zurück. Sie starteten vor zwei Jahren mit 1559 ELO und liegen heute bei 1885. Worin liegt das Hauptgeheimnis für diesen Höhenflug?

Ich spiele gerne und sehr viel. Genauer gesagt, habe ich in den letzten zwei Jahren über 250’000 Online-Partien und rund 200 klassische Partien am Brett gespielt.

Gibt es noch weitere Überlegungen, die diese ELO-Steigerung ermöglicht haben?

Für mich war nach wenigen Turnierpartien klar, dass ich mich verbessern möchte, um noch mehr Freude durch das Schachspiel zu erleben. Deshalb versuche ich, regelmässig zu trainieren.

Bemerkenswert ist bei Ihnen, dass Sie 2010 im Alter von 16 Jahren mit dem Schach aufgehört haben. Was geschah damals?

Es gab verschiedene Gründe, weshalb sich Schach langsam aus meinem Leben schlich. Ich hatte andere Dinge wie Ausbildung, Nachtleben oder auch Liebesbeziehungen, die in den Mittelpunkt meines Lebens traten. Kurz gesagt: Die Pubertät hat voll reingeknallt. Schach war plötzlich komplett weg von meinem Schirm.

Was ereignete sich in der elfjährigen Pause?

Ich habe die Sekundarstufe beendet, danach eine Lehre zum Maurer abgeschlossen und den Militärdienst absolviert. Anschliessend arbeitete ich über acht Jahre auf dem Bau und bin mittlerweile mittendrin in der Hochschul-Weiterbildung zum Bauführer.

Haben Sie dem Schach in dieser Zeit komplett den Rücken gekehrt, gelegentlich privat am Brett oder online gespielt und das Schachgeschehen medial verfolgt?

Nein. Ich habe keine einzige Partie gespielt bis im Juni 2019. Als ich wieder mit Schach begann, wusste ich nicht einmal, dass Magnus Carlsen der aktuelle Weltmeister war. Für mich war gefühlt immer noch Garry Kasparow Weltmeister. Ich hatte mich komplett von der Schachwelt abgekoppelt.

Sie gehörten mit Ihren beiden älteren Schwestern Céline und Fabienne zu den Stammgästen an den Qualifikationsturnieren für die Schweizer Jugend-Einzelmeisterschaften (SJEM). Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Juniorenzeit und insbesondere an diese Quali-Turniere?

Ich habe sehr schöne Erinnerungen an meine Juniorenzeit. Schon als Kind habe ich leidenschaftlich gern Schach gespielt. Zusammen mit meiner Familie bestritt ich unzählige Turniere. Schach war und ist für mich ein Highlight meiner Kindheit. Wenn ich an die Quali-Turniere denke, habe ich noch klare Erinnerungen an den Turniersaal in Belp, wo wir jedes Jahr aufs Neue gemeinsam antraten. Dieses Turnier hat mir immer gefallen.

Sie fanden 2022 als Einzelmitglied des Schweizerischen Schachbundes (SSB) den Weg zurück ins Turniergeschehen. Was hat sie hauptsächlich bewogen, wieder zum Turnierschach zurückzukehren?

Durchs Online-Schach begann ich wieder zu spielen. Doch irgendetwas fehlte mir dabei. Ich erinnerte mich, wie es früher war, gegen einen Gegner zu spielen, der einem physisch gegenübersitzt. Um dieses Gefühl wieder zu spüren, meldete ich mich für mein erstes Turnier an.

Seit Ihrem Comeback haben Sie über 180 Führungslisten-Partien gespielt. War das von Anfang an so geplant?

Nein, das war nicht so geplant. Das hat sich einfach so ergeben.

Was fasziniert Sie an den vielen Schweizer-Wochenend-Turnieren?

Für mich sind diese Wochenend-Turniere wie Ferien. Ich reise durch die ganze Schweiz an die wunderschönen Austragungsorte in den Bergen und kann da auch noch Schach spielen. Für mich ist das ein doppelter Gewinn.

Was unterscheidet Ihren heutigen Spielstil von demjenigen in Ihrer Juniorenzeit?

Mein Spielstil hat sich sicherlich verändert, aber einiges ist auch gleichgeblieben. Als Junior habe ich sehr intuitiv gespielt. Mein Verständnis für das positionelle Spiel ist heute fundierter, und ich weiss besser, in welcher Situation was zu tun ist.

Gerne würden wir erfahren, wie Ihr Trainingsprogramm aussieht.

Ich studiere Eröffnungen, Endspiele und löse Taktikaufgaben. Danach wende ich das Neugelernte in unzähligen Online-Partien an. Ausserdem schaue ich viele Analysevideos von Spielen der Schachelite an und versuche, mir ein Stück von ihnen abzuschneiden.

Was ist Ihnen bei der Gestaltung eines Trainingsprogramms am wichtigsten?

Für mich ist es wichtig, dass es mir Spass macht und abwechslungsreich ist.

Haben Sie auch einen Trainer, der die Spiele mit Ihnen analysiert? Wir können uns kaum vorstellen, dass man allein so schnell derart grosse Fortschritte machen kann.

Meine Partien analysiere ich selbst mit Stockfish am Computer. Aber ja, ich habe verschiedene Personen, die mich im Hintergrund unterstützen – so auch einen Trainer.

Sie gehören keinem Verein an, sondern sind Einzelmitglied des Schweizerischen Schachbundes. Gibt es hierfür einen besonderen Grund?

Heute muss man nicht mehr in einen Verein sein, um regelmässig Schach zu spielen. Ausserdem steht die Jugendförderung in vielen Vereinen im Vordergrund, und die Erwachsenen spielen öfter gerne am Stammtisch. Das ist momentan nicht das, wonach ich suche.

Vermissen Sie nicht Mannschaftswettkämpfe mit Kollegen in der SMM und SGM?

Ja, ich würde gerne wieder am Geschehen der SMM und SGM teilnehmen. Ich habe einen Verein in Aussicht und plane, ab 2025 in einer Mannschaft zu spielen.

Interview: Graziano Orsi

Mario Steiner persönlich

Wohnort: Root.
Alter: 30.
Beruf: Bauführer.
Hobbys: Schach!
ELO: 1885.
Klub: in keinem.
Lieblingsschachspieler(in): Magnus Carlsen, Hikaru Nakamura, Dina Belenkaya.
Schach-Buchtipp: «Schach für Zebras» von Jonathan Rowson.

Web-Tipp

Der Schweizer Schach-Streamer: TheChessDudeOriginal auf der Streaming-Plattform Twitch.