Wie weit ihn seine Gabe im internationalen Vergleich trägt, das weiß Vincent Keymer noch nicht. Sicher ist, dass er im nationalen Vergleich eher früher als später über den Dingen stehen wird. Die künftige Hackordnung des deutschen Schachs lässt sich seit einigen Tagen der Tabelle der Europameisterschaft entnehmen: Keymer steht vorne, und dahinter ringen einige andere darum, die Nummer zwei zu sein.
Wir haben im Verlauf der EM-Berichterstattung an dieser Stelle bislang tunlichst vermieden, einen Satz zu bilden, in dem die Begriffe “Vincent Keymer” und “Europameister” nahe beieinander stehen. Was würde derlei Spekulation bringen? Wenn er es schafft, toll, und wenn nicht, ist er trotzdem der Goldjunge des deutschen Schachs.
Gestern allerdings war auf dem Twitter-Account dieser Seite schon ein Tweet geschrieben, in dem es hieß, Vincent Keymer stehe nach dem Sieg beim Grenke-Open 2018 vor dem zweiten großen Turniersieg seiner jungen Karriere. Der 16-Jährige hatte mit Schwarz den russischen Großmeister und alleinigen EM-Tabellenführer Anton Demchenko dermaßen an die Wand gespielt, das Ergebnis dieser Partie schien außer Frage zu stehen. Aber dann …
Es wurde nur remis. Auch das ist genug, um Vincent zu einem der fünf Großmeister zu machen, die am heutigen Sonntag Europameister werden können, wenngleich nicht mehr aus eigener Kraft. Außerdem kämpft der 16-Jährige im Fernduell gegen den hartnäckig gleichauf liegenden Rumänen Daniel-Bogdan Deac um einen zweiten “Titel”, den Sieg in der U20-Wertung, die ihm im November einen Platz im Grand Swiss und damit im WM-Zyklus 2022 sichern würden.
Erwartungen zu schüren ist absolut überflüssig und eher leistungshemmend. Das gilt in letzter Zeit sogar messbar für den Fußball (und sicher auch für andere Sportarten). Im Fußball stellt man fest, dass die Medien den Vereinsverantwortlichen irgendwelche Saisonziele abnötigen, welche fast immer jenseits der Möglichkeiten oder tatsächlichen Erwartungen liegen. Beispiel: Dortmund MUSS doch Meister werden wollen, auch wenn jeder weiß, dass Bayern besser ist? Was soll der Unsinn? Man erzeugt auf diese Art Jahr für Jahr enttäuschte Fans, und das nicht nur bei Dortmund, sondern bei fast jedem, der die zu hoch gesteckten Erwartungen nicht erreicht. Der Grund jedoch, warum er diese nicht erfüllt, ist unter anderem im AUFSTELLEN dieser überzogenen Erwartungen begründet. Die Fans „fordern“ Siege, weil sie nicht zufrieden sind mit dem Erreichten, da ja „noch mehr“ rauskommen sollte. Die Ergebnisse entsprechen aber objektiv gesehen den Erwartungen. Die Fans erzeugen nun einen zusätzlichen Druck, welcher die Spieler lähmt oder an allen möglichen Ecken und Enden für Fehlentscheidungen sorgt, auch auf Seiten der Vereinsverantwortlichen (Trainerentlassung — was für ein Irrsinn! Aber das nur ein Beispiel). Kurz gefasst: man erreicht WENIGER, weil man MEHR – und somit fälschlich ZU VIEL erwartet.
Die einzige richtige Maßnahme, welcher jeder Sportler zur Verfügung hat (und was im Teamsport natürlich genauso Gültigkeit hat): triff in jedem Moment die bestmögliche Entscheidung. Durch welches Wunder der Erde sollte eine einzelne Entscheidung DADURCH besser ausfallen, dass man diesen Druck aufbaut? „Mache jetzt keinen Fehler. Die Welt erwartet etwas (zu viel) von dir.“ Vielleicht erfolgt DESHALB sogar der Fehler? Spiel einfach so gut, wie du kannst.