Dezember 14, 2024

Schach – der langweiligste Sport der Welt?

Von GM Gerald Hertneck, München

Es ist Ende November 2024 und der Höhepunkt des Schachjahres ist da: die lang erwartete Schachweltmeisterschaft in Singapur! Gebannt sitzen weltweit Millionen von Schachspielern vor dem Bildschirm und verfolgen die aufregenden Partien, die dort gespielt werden. Und alle waren begeistert: wie der Chinese Ding in der ersten Partie geschickt das Einbruchsfeld auf c4 nutzte, um den indischen Herausforderer zu strangulieren. Und wie Gukesh wie ein Fisch im Netz zappelte, aus dem es kein Entkommen mehr gab.
Doch halt, gehen wir einen Schritt zurück, und betrachten den Verlauf aus einer etwas anderen Perspektive. Seit 40 Jahren spielt der Autor Französisch, und so kam ihm die folgende Stellung vor dem 10. Zug von Weiß (Neuerung g4!?) seltsam vertraut vor.

Hier spielt Weiß auf sein starkes Zentrum (insbesondere die Punkte d4 und e5 sind stark überdeckt), hat aber die Entwicklung des Königsflügels leicht vernachlässigt. Schwarz muss dagegen versuchen, am Damenflügel Gegenspiel zu entwickeln, da er das Zentrum nicht sprengen kann. Würde er klassisch mit Db6 fortsetzen, dann würde Weiß Tb1 spielen, daher folgte in der Partie nach 11.g4 Da5!

Doch man muss gar nicht so tief in die Details gehen, vielmehr fragte sich der unbedarfte Zuschauer, wieso der Titelverteidiger nach dem 11. Zug bereits eine ganze Stunde Zeit verbraucht hatte, während Gukesh seine Züge herunterblitzte, und hier erstmals nachdachte, bevor er zur Neuerung g4 griff. Doch bleiben wir bei Ding: in einer völlig thematischen Stellung, in der er sich zumindest eine bisschen auskennen musste, wenn er klassisches Französisch spielt, hatte er bis zu Da5 bereits eine Stunde nachgedacht, und man hatte als Zuschauer schon Angst, dass er im Mittelspiel untergehen würde wegen schlechter Zeiteinteilung. Nun, so kam es bekanntlich nicht, und insofern könnte man argumentieren, dass er die Zeit genau an der richtigen Stelle verbraucht hat, weil Weiß danach in Schwierigkeiten geriet. Nun gut, lassen wir diese Frage nach der Einteilung der Bedenkzeit noch einen Moment offen, und wenden uns der zweiten Partie zu.


Hier sind die Damen und Läufer bereits getauscht, und die Bauern stehen sich gegenüber. Schwarz hat ein starkes Feld auf d4 und umgekehrt Weiß auf d5. Wir befinden uns im 14. Zug und die Partie sieht schon stark nach Remis aus, wohl weil Weiß (Ding) etwas unambitioniert gespielt hat. Tatsächlich endete die Partie dann auch 10 Züge später Remis. Doch an dieser Stelle dachte Gukesh lange nach. Offensichtlich wollte er nicht durch zu schnelles Spiel die Stellung verderben, denn auch in symmetrischen Positionen lauern oft noch Tücken. Er investierte also volle 27 Minuten seiner kostbaren Bedenkzeit, und griff dann zum offensichtlichen Zug 14…Sd4! Dieser Zug ist stark, weil auf 15.Sxe5 Tfe8 folgt, und nun wäre 16.f4 ein Fehler, weil schwarz nach dem Konter 16…Sxe4! besser bzw. auf Gewinn steht. Und auch der Rückzug 15.Sd3 ist schlecht, weil Schwarz 15…Sxb3! hat. Der Chinese griff daher zu dem bescheidenen Zug 15.Se1, wonach die Stellung völlig verflachte.
Nach Meinung des Autors dieser Zeilen darf ein Weltklassespieler für die Berechnung der obigen Varianten nicht eine halbe Stunde Zeit verbrauchen und so die Nerven der Zuschauer strapazieren. Nebenbei gesagt, natürlich hätte Schwarz auch einfach 14…Tfe8 und danach Sd4 spielen können, wonach er die taktischen Varianten mit Sxe5 aus der Stellung genommen hätte. Es mag auch sein, dass er nach der Vortagesniederlage ganz auf Nummer Sicher gehen wollte, was ihm wohl keiner verdenken mag.
Moment einmal, wieso eigentlich „Keiner“? Wurde nicht eingangs erwähnt, dass Millionen von Zuschauern vor dem Bildschirm saßen, und die Partie live verfolgten? Und was passierte in den fraglichen 27 Minuten? Hier die Antwort: es passierte: NICHTS!
Und was passierte in der ersten Partie in den 60 Minuten, die Weltmeister Ding benötigte, um eine Standarderöffnung und einen Standardplan auf das Brett zu stellen? Es passierte: NICHT VIEL!
Gehen wir doch noch einmal ein bisschen anders an die Sache heran. Schach ist Sport, nicht wahr? Denn hier wird ja ein Wettkampf ausgetragen. Nun hat eine Sportübertragung zwei Seiten. Die für die Spieler und die für die Zuschauer. Die Spieler haben gerade in der ersten Partie eine gute Show geboten, muss man sagen, doch wie sah es aus Sicht der Zuschauer aus? Kann man den Schachfans zumuten, dass sie eine halbe Stunde auf einen Zug warten müssen, noch dazu wenn die Stellung überhaupt nicht kompliziert ist? Im Schach anscheinend schon, aber vergleichen wir es doch mal mit anderen Sportarten, die ebenfalls live übertragen werden, und betrachten dazu fiktive Szenarien.
Tennis: Wir befinden uns mitten im ersten Match, Titelverteidiger Zwerevsky hat Aufschlag, doch halt, was passiert: er greift in seine Hosentasche, zieht ein paar Nüsse hervor, putzt sie gründlich, und kaut sie gemächlich. Der Gegner ist verdutzt, das Publikum buht. Der Schiedsrichter entscheidet jedoch, dass Zwerevsky sich zu Recht eine Auszeit von 20 Minuten genommen hat, denn Nahrungsaufnahme geht nun mal vor! Nüsse geben auch viel Kraft! Doch halt, Zwerevsky wird nervös, kaut ein bisschen schneller, und schon nach 15 Minuten kann das Spiel fortgesetzt werden. Das Publikum applaudiert, als er endlich seinen Aufschlag macht.
Fußball: Erste Halbzeit, der Spieler Külmich begeht ein grobes Foul im gegnerischen Strafraum. Das riecht nach Elfmeter! Und ja genau, da pfeift der Schiedsrichter schon, und legt den Ball auf den Elfmeterpunkt. Die Mauer vor dem Tor bildet sich, Tom Miller darf schießen, das Publikum erhebt sich gespannt von den Rängen, und dann, ja und dann, joggt Miller erst mal ein paar Runden um das Stadion! Ja, was ist das denn? Das Publikum buht Miller aus! Der gegnerische Käptn rennt zum Schiedsrichter und protestiert: doch dieser entscheidet: Miller hat völlig berechtigt eine Auszeit genommen, denn bevor er den Ball aufs Tor schießt, muss er sich erst einmal in Form bringen, und seine Nerven beruhigen. Schließlich ist so ein Schuss auf das Tor keine Kleinigkeit! Außerdem zeigt er dem Publikum eine sportliche Einlage, was belohnt werden muss. In der Zwischenzeit haben jedoch die ersten Zuschauer das Stadion bereits pfeifend verlassen.
Darts: Wieder einmal haben sich zwei Spieler vor der Dartsscheibe versammelt, und wollen den Besten ermitteln. Unser Protagonist Maxim ist dran, und ja wenn er dreifach die 18 wirft, dann ist das Spiel aus! Doch halt, stopp, Moment, was macht Maxim denn da? Sein Blick ist auf die Dartsscheibe gerichtet, er hat den Pfeil schon wurfbereit in der Hand, doch plötzlich geht er zum Schiedsrichter, und fragt, ob er statt 3 mal 18 auch 2 mal die 27 werfen darf? Ja hat man so etwas schon mal gehört? Die 27 gibt es doch gar nicht auf der Dartsscheibe! Weiß Maxim das denn nicht??? Doch die erregte Diskussion mit dem Schiri geht weiter, man streitet sich erbittert, und beinahe wäre es zur Disqualifikation von Maxim gekommen, doch dann beruhigten sich die Gemüter, und das Spiel konnte nach 15 Minuten wieder aufgenommen werden! Maxim musste am Ende zugeben, dass er sich geirrt hatte, und nun endlich blitzt wieder sein Klasse hervor, als er mit einem gezielten Wurf die 18 trifft, und die gleich dreifach! Was war heute nur mit Maxim los, fragen sich die Zuschauer.
An dieser Stelle mag sich der Leser fragen: ist der Autor verrückt geworden? Es ist doch bekannt, dass man im Schach so lange nachdenken warf, wie man Zeit auf der Uhr hat. Theoretisch kann man auch eine ganze Stunde oder noch länger über einen Zug nachdenken! Ja, aber ist das denn vernünftig? Oder noch besser gefragt: was soll denn der Zuschauer davon halten, wenn sich eine Stunde lang am Brett nichts rührt? Ist das nicht schon Verarschung? Oder zumindest Missachtung des Publikums? Ist das nicht auch den Kommentatoren peinlich?
Werden die Spieler dafür bezahlt, keine Show zu bieten? Oder ist es vielleicht anders, und geht die Kritik nicht an die Spieler, sondern an den Ausrichter oder an das Reglement, das solche „Bedenkzeitexzesse“ erlaubt? Genau so ist es: was regulär erlaubt, dafür sind die Spieler nicht zu kritisieren, da sie sich an die Regeln halten. Wo liegt also das Problem? Das Problem liegt vor allem darin, dass es keine vorgeschriebene Höchstzeit pro Zug gibt! Wenn ein Spieler 2 Stunden oder 120 Minuten für 40 Züge hat dann muss er im Schnitt alle 3 Minuten einen Zug ausführen. Wieso darf er dann zehn mal so lang für einen Zug nachdenken? Wieso schreibt man ihm nicht vor, dass er maximal die doppelte oder dreifache Zeit für einen Zug in Anspruch nehmen darf? Oder wenn er zu lange nachdenkt, dann ist die Partie zwar nicht verloren, aber dafür bekommt er automatisch einen Zeitabzug, auch das wäre denkbar!
Nein, der Autor dieser Zeilen ist nicht verrückt geworden. Er spielt seit fast 50 Jahren Schach und er weiß genau wie die Regeln sind. Er hat auch schon mal eine halbe Stunde für einen Zug nachgedacht, zuletzt in der Bundesliga 2024 in Viernheim. Es ist nur so, dass zur selben Zeit nicht Millionen von Zuschauern seiner Partie folgten. Als Ausrichter eines Schwachwettbewerbs trage ich auch Verantwortung für das Publikum. Noch einmal: in welcher Sportart wird ein Wettbewerb eine halbe Stunde lang pausiert, wenn ein Spieler sich nicht entscheiden kann? Oder ist Schach vielleicht gar kein richtiger Sport? Diese Frage kann man sich stellen, und diese Frage muss man sich vielleicht sogar stellen, solange die Regeln so sind wie sie sind!