April 19, 2024

Zwischenbilanz in Wijk aan Zee

Ergebnisse der ersten sechs Runden haben die Leser bereits auf dem Schachticker (oder auch anderswo) erfahren, dieser Bericht wird eher atmosphärisch – dieses Jahr allerdings ohne eigene Eindrücke vor Ort. Nur letzten Sonntag war ich schachlich aktiv, allerdings nicht als Reporter bei Tata Steel Chess sondern am Brett in Gröbenzell. Dazu später mehr – Schwerpunkt ist natürlich das Geschehen in Wijk aan Zee mit Ausflug nach Alkmaar.

So steht es momentan bei den Masters: Nepomniachtchi, Carlsen, Ding Liren, Giri 4/6, Anand und Vidit 3.5, Radjabov 3, Shankland, Mamedyarov, Duda 2.5, Jorden van Foreest, Fedoseev, Kramnik 2. Wie die derzeit glorreichen vier +2 erzielten, wann und auf welche Weise kommt gleich. Wenn man Jorden van Foreest vor dem Turnier gesagt hätte „Du bist punktgleich mit Kramnik!“ wäre die Reaktion vielleicht „einverstanden!“, vielleicht auch „sag‘ mir bitte, welcher Kramnik mitspielen wird“. Giri bekommt das Titelbild – alle Fotos von Alina l’Ami, ab Turnierseite auf Facebook. Er spielte bisher die meisten Partien, jedenfalls wenn man das neueste Mätzchen eines Norwegers für bare Münze nimmt. Inklusiv diesem Mätzchen hat er „übliche“ 50%, ohne dieses wie gesagt +2.

Den Zwischenstand bei den Challengers nenne ich auch, zumal da zwei Deutsche mitspielen – nicht weniger und nicht unbedingt mehr, sie agierten bisher relativ unauffällig: Kovalev 4.5/6, Chigaev und Korobov 4, Esipenko und Bareev 3.5, Gledura, Lucas van Foreest, l’Ami, Keymer, Maghsoodloo 3, Praggnanandhaa und Paehtz 2.5, Saduakassova 1.5, Kuipers 1. Nicht ganz sauber nach Elo oder auch Alter sortiert – liegt vor allem daran, dass Parham Maghsoodloo an Erfolge in letzter Zeit nicht anknüpfen konnte. Schon zu Beginn bekam er einen Dämpfer. Positiv überrascht bisher vor allem Maksim Chigaev, der wohl den ACP-Platz im B-Turnier bekam – auch das (nicht der ACP-Platz) liegt u.a. an Maghsoodloo.

Das Ergebnis von Stefan Kuipers nicht unbedingt überraschend, einer muss eben Letzter sein und es trifft den Elo-Außenseiter (Sieger der höchsten Amateurgruppe anno 2018). Nun kommt der kurze Ausflug nach Gröbenzell, wo ist das denn? Ich wusste es zuvor auch nicht, im Münchner S-Bahn Bereich – wobei wir per Auto anreisten. Das war Austragungsort der Münchner und oberbayrischen Mannschaftsmeisterschaft im Blitzschach, bei der zwei von fünfzehn Teams einen Eloschnitt unter 2000 hatten. Auch da darf oder muss jemand am Spitzenbrett spielen, mich hat es erwischt. Und dann ist man eben mitunter chancenlos, mal kann man anfangs mithalten und irgendwann nicht mehr, und mal verliert man auch nicht – der Schaden für die Münchner Schachszene durch einen elolosen Neuzugang (auf der NL-Skala knapp unter 2000) war überschaubar. Ähnlich erging es Stefan Kuipers in der B- und auch (auf etwas andere Art und Weise) Jorden van Foreest in der A-Gruppe, der ich mich nun wieder zuwende. Zunächst zu den vier momentan Führenden:

Nepomniachtchi – hier beim Spaziergang auf der Bühne vor oder während einer Runde – erzielte seine zwei Siege früh im Turnier und profitierte vielleicht davon, dass er gegen Giri Schwarz hatte:

Hier haben wir das Ergebnis aus Runde 1. Nepo entkorkte Pirc, Giri kam damit gar nicht zurecht – ein Figurenopfer im 18. Zug war wohl bereits aus der Not geboren und schlicht und ergreifend unzureichend. Die gute Nachricht für Giri (s.u.): manchmal hatte er im Turnier auch die schwarzen Figuren.

Nepos zweiter Sieg dann in Runde 3 gegen Kramnik – wenn der Gegner übermotiviert agiert, kann man auch mit dem lahmen 5.Te1 gegen die Berliner Mauer gewinnen.

Carlsen ist nach Wertung offenbar als Nächster dran. Auch wenn die Frisur perfekt sitzt, anfangs war es zum Haareraufen: was er auch versuchte – für ihn eher untypisch-dynamisches Schach oder doch sein bevorzugtes Ähm äh, alles wurde remis. Dafür hatte er sich, wie bereits erwähnt, ein Mätzchen einfallen lassen: er tat so, als ob er in jeder Runde gegen Giri spielt. Tatsächlich ist es dann erst in der allerletzten Runde der Fall. Ein Mätzchen war übrigens nicht genug, das kommt gleich.

Zunächst zu Carlsen in den ersten vier Runden: Anfangs zwei dynamische Partien. Zu Beginn opferte er gegen Ding Liren nach unkonventioneller Eröffnung gar eine Qualität. Danach war es +- unklar-ausgeglichen, aber Carlsen sagte danach, dass er ums Überleben kämpfen musste – derlei Stellungen liegen ihm eben nicht wirklich? Gegen Nepomniachtchi in Runde zwei 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.f3!? – Nepo mit Schwarz kannte das gut, es wurde remis. Carlsen hinterher: „nach seiner Niederlage tags zuvor wollte er mich überraschen“ – Nepo hatte ja tags zuvor gewonnen, und zwar gegen Giri. Dann war wieder Ähm äh angesagt:

Gegen Vidit unternahm er in einem Turmendspiel, das trotz Mehrbauer schlicht und ergreifend remis war, endlose „Gewinnversuche“. Gewinnversuche bedeutet bei Carlsen endlos hin und her ziehen und auf einen gegnerischen Fehler warten, der kam nicht – Remis nach hunderteinunddreissig Zügen. Es ging auch schneller, aber zweimal hatte er kurz bevor die 50 Züge Regel greifen würde doch einen Bauern gezogen.

Dann hoffte er wohl vergeblich darauf, dass Kramnik genauso agieren würde wie zuvor im Turnier. Aber Vlad war auf der Höhe des Geschehens: zwar wieder ein Carlsen-Mehrbauer im Endspiel, aber wieder remis. Bei früheren Gelegenheiten in Wijk aan Zee begann der Norweger oft auch verhalten, und dann war van Wely lieb zu ihm und ab da lief es dann. Loek spielt ja nicht mehr mit, aber Jorden hat auch einen Nachnamen der mit van beginnt.

van Foreest – Carlsen 0-1 – in Alkmaar, im Hintergrund mit Amtskette wohl der dortige Bürgermeister. Es war Sveshnikov-Sizilianisch mit dem zuvor von Caruana gegen Carlsen bevorzugten 7.Sd5 – wenn man ihn im Detail vorbereitet, kann selbst Carlsen dynamisch spielen. Jorden verzichtete mehrfach auf Lxh5, was er nach eigener Aussage gegen einen „weniger starken“ Gegner gespielt hätte, aber gegen Carlsen macht man eben nicht die besten Züge … . So ging er dann mit fliegenden Fahnen unter.

Tags darauf war Ruhetag mit Basketball, und dann zunächst das nächste Carlsen-Mätzchen:

Giri wundert sich „Wo ist Carlsen?“.

Dann kam er offenbar, zehn Minuten nach Rundenbeginn – er wollte eben nicht fotografiert werden. Meines Wissens sind Spieler eigentlich verpflichtet, pünktlich zu erscheinen. Eine eventuelle Geldstrafe wird Carlsen sicher verkraften, womöglich gilt auch hier mal wieder „es gibt Regeln für alle und Ausnahmen für Carlsen“. Ernsthaftere Konsequenzen – keine Einladung zu Tata Steel Chess 2020 – hat es sicher nicht.

Gegner Mamedyarov gab die ihm geschenkte Bedenkzeit sofort mit Zinsen zurück – 10 1/2 Minuten für 1.Sf3, 12 1/2 Minuten für 1.-d5. Im weiteren Verlauf Ähm äh in Reinkultur: Damentausch nach neun Zügen, total symmetrische Bauernstellung, vielleicht macht der Gegner ja dann einen Fehler? Es wurde dann doch dynamisch, da Mamedyarov aktiv spielte, und tief im Endspiel kam ein Fehler der absurden Art: Statt 44.-e3, Freibauern mobilisieren und es bleibt ausgeglichen, kam 44.-h5???. Das drohte, vier oder fünf Züge später was zu drohen – was Carlsen, der zwischenzeitlich am Damenflügel erhebliche Fortschritte machen durfte, problemlos neutralisieren konnte. Bravo Shak, Ave Carlsen Halleluja! In diesem Still hatte Mamedyarov früher oft gegen Carlsen verloren, zuletzt nicht mehr und nun waren die guten alten Zeiten wieder zurück.

Zu Ding Liren schrieb ein Vereinskollege (aus Texel) „den kenne ich gar nicht“ – er verfolgt Spitzenschach wohl nicht allzu intensiv-regelmässig.  Seine zwei Siege in Runde 3 gegen Jorden van Foreest sowie Runde 5 gegen Shankland. Jorden hatte gerade das Gröbste überstanden und griff dann im Läuferendspiel daneben. Shankland wollte im Turnier immer remis spielen – auch wenn er aus Versehen mal besser stand schaffte er es letztendlich. Nur gegen Ding Liren klappte es nicht: in einem Spanier konnte er mit Weiß seinen Damenflügel nie entwickeln, und das hatte Konsequenzen.

Giri hatte ich individuell bereits, hier mit seinem Team bei anderen Gelegenheiten – in Wijk aan Zee spielen Santosh Vidit und Erin l’Ami (B-Gruppe) ja selbst, aber man redet doch miteinander. In Runde 1 hatte Giri ja verloren, tags darauf traf er auf einen ehemaligen(!) Angsgegner:

Früher hatte Giri „immer“ gegen Kramnik verloren, die letzten drei entschiedenen Partien gewann er nun. Kramnik wählte den Vorwärtsgang, nutzte eine Chance nicht und musste später mit Motorschaden aufgeben.

In Runde 4 spielte Rapport mit Weiß gegen Giri ebenfalls aktiv, wobei er 23.g4 (!? oder ?!) mit einem Remisangebot verknüpfte. Giri war nicht einverstanden und konnte sich im weiteren Verlauf durchsetzen.

JK Duda entkorkte gegen den oft gut vorbereiteten Giri 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.g3!? und stand danach zwar auf der Uhr zunächst deutlich besser, aber auf dem Brett wurde auch er ausgekontert. Giri hat insgesamt 3/3 mit Schwarz und nicht so tolle 1/3 mit Weiß.

Das waren die glorreichen vier, ein paar Bilder und Bemerkungen zu einigen anderen:

Vishy Anand hat gute Laune und ein solides Turnier – Sieg gleich zu Beginn gegen van Foreest, seither Remisen. In der ersten Runde war er, auch mit Schwarz, eben einfach der bessere Spieler. Zu Jorden komme ich noch, erst der dritte (Ex-)Weltmeister im Turnier:

Wobei zu Kramnik eigentlich schon alles gesagt ist: unternehmungslustig-riskantes Schach, aber es läuft nicht für ihn.

Jorden van Foreest hat erwartungsgemäss einen schweren Stand. Gegen Anand und Carlsen war er jeweils auch mit Weiß chancenlos. Gegen Ding Liren und Vidit hatte er im Endspiel jeweils sehr konkrete Remischancen, die er dann nicht nutzte. So hat er bisher noch gar nicht Remis gespielt, sieben Chancen hat er noch im Turnier. Auf der Habenseite zwei turbulente Siege gegen Duda und den offenbar etwas indisponierten Fedoseev. Gegen Duda stand er zuvor „subjektiv“ schlechter, gegen Fedoseev stand er auch objektiv verdächtig bis verloren.

Nun erst eine Reihe Bilder aus Alkmaar:

Das übliche Gruppenfoto, auf dem einige den Eloschnitt drücken – wenn sie es überhaupt versuchen sollten, würden sie wohl auch auf dem Schachbrett relativ zur Weltelite Käse produzieren.

„Es gibt Regeln für alle, und Ausnahmen für Carlsen“ – Anreise generell per Bus, für Carlsen per Jaguar in dem auch Platz war für PH Nielsen.

Zu Fuss zum Turniersaal – vorne Rapport und Rapport, dahinter wohl auch einige die eher zufällig in dieselbe (bzw. gar in die umgekehrte) Richtung unterwegs sind.

 

Gespielt wurde auf der Bühne von Theater de Vest,

hier auch aus der anderen Richtung fotografiert. Die lange Anreise (etwa 20km) war für einige offenbar ermüdend:

Ausnahme vielleicht Mamedyarov, der nur morgens keine Zeit für eine Rasur hatte. Es gab noch einen anderen Schauplatz, Schulschach gegenüber in der „Grote Kerk“:

Da war jung-dynamisch angesagt. Der Herr mit Bart auf dem ersten Foto ist wohl Papa oder Opa.

Und nun zur B-Gruppe, die auch an diesem Tag in Wijk aan Zee blieb:

In Führung derzeit Vladislav Kovalev, nach Endspielsiegen in Runde 4-6 gegen van Foreest (in der B-Gruppe hat er den Vornamen Lucas), Gledura und Saduakassova. Letztere deutete bereits mit 1.e4 e5 2.Sf3 Sf6 an, dass sie Remis spielen will, Kovalev war mit 5.De2 scheinbar einverstanden und gewann dann doch.

Korobov ist auf seine Weise einfach fotogen, außerdem ist auch er nach wie vor im Rennen um den Turniersieg. Dem Vernehmen nach erscheinen Kovalev und Korobov oft gemeinsam in Bars in Wijk aan Zee, was bisher keine KO-Folgen hatte.

Korobov hatte mit Najdorf-sizilanischem Schwarzsieg gegen Maghsoodloo einen Auftakt nach Mass. Am Nachbarbrett wählten die beiden deutschen Teilnehmer(innen) übrigens dieselbe Variante und es lief anders: Paehtz stand gegen Keymer durchgehend besser, aber begnügte sich mit Remis. Einen Unterschied gab es: Paehtz rochierte Najdorf-typisch lang, Maghsoodloo rochierte doch kurz und wurde trotzdem mattgesetzt.

Leicht enttäuschend für Korobov vielleicht das Schwarzremis gegen Paehtz – mit der Eröffnung (Benoni) deutete er an, dass er wohl mehr wollte. Dabei hatte er den Bogen später vielleicht gar etwas überspannt, aber es wurde remis. Nicht immer gewinnt der Elofavorit, nicht immer verliert der Außenseiter oder die Außenseiterin. Tags zuvor hatte Maghsoodloo Paehtz überspielt, aber das war die einzige schlechte Nachricht für Paehtz im bisherigen Turnier. Korobov gewann noch gegen Kuipers, das schafften vier der sechs bisherigen Gegner des eloschwächsten IMs im Turnier.

Wie bereits erwähnt, überrascht Maksim Chigaev bisher positiv.

Lag es auch an moralischer Unterstützung aus dem Publikum vor der sechsten Runde? Danach gewann auch er mit Schwarz gegen Maghsoodloo, der andere Sieg zu Beginn gegen Saduakassova war mit Weiß und Elo-konform. Und nun nochmals durch die deutsche Brille:

Keymer (rechts) und Praggnanandhaa hatten sich, was Schuhe betrifft, vielleicht abgesprochen. Der Inder brauchte diese während der Partie (remis) allerdings dann nicht. Auf der Habenseite für Keymer der „übliche“ Sieg gegen Kuipers, im Soll blieb er (mit Schwarz, Najdorf-Sizilianisch) gegen Esipenko. Keymer und (noch etwas mehr) Paehtz müssten für eine GM-Norm im weiteren Turnierverlauf Gas geben. Für Keymer war es nach Runde 5 so möglich: mit Weiß gegen die relativ schwachen Lucas van Foreest und Saduakassova gewinnen, mit Schwarz gegen Gledura und Bareev remis halten. Die Partie gegen den jungen (bzw., siehe unten, mittelalten) van Foreest wurde dann Remis. Ob Vincent Keymer und/oder sein vor Ort anwesender Trainer Peter Leko so oder so ähnlich planen, dazu kann ich dieses Jahr nicht recherchieren.

Praggnanandhaa ist international wohl bekannter als Keymer, auch Carlsen kennt ihn vielleicht. In Runde 1 siegte allerdings mit Bareev der viel erfahrenere (wenn auch zuletzt nahezu inaktive) Spieler. Mit einem Sieg gegen, na klar doch, Kuipers, verbesserte sich Pragg wieder auf 50%. Hoppla, das war Runde 7, die während ich schreibe bereits teilweise vorbei ist.

Die Chance zu Gesprächen mit Erwin l’Ami hat Stefan Kuipers wohl auch bei anderen Gelegenheiten in Wijk aan Zee oder anderswo in den Niederlanden. Ob er in Wijk aan Zee nochmals auf der Bühne mitspielen darf? Vermutlich müsste er sich erneut über die höchste Amateurgruppe qualifizieren.

Das Stichwort „Amateure“ fiel hiermit bereits, abschliessend noch eine Bildergalerie dazu:

Der gesamte Turniersaal von oben betrachtet (Amateurgruppen 8 haben Elo-Niveau ca. 1300-1400). Gruppe 2 ist hochklassiger, ca. 2100. Alle bzw. viele analysieren dann nach ihren Partien in der Bar, Tips von Korobov oder Kovalev wohl Glückssache.

Damen gehören auch auf der Bühne dazu, noch reicht es für Machteld van Foreest (derzeit Elo 2012, war bereits mal über 2100) nicht – was nicht ist, kann noch werden? van Wely (natürlich ist der links auf dem letzten Foto gemeint) hat meines Wissens noch gar keine Elozahl.