März 19, 2024

Sport und die Vereinheitlichung der Psychologie (IV)

 

Sport und die Vereinheitlichung der Psychologie (IV)

 

Sport und die Vereinheitlichung der Psychologie (IV)
Neue Entwicklungen der Grand Unification Perspective of Psychology 

Dr. Reinhard Munzert 
(vormals Universität Erlangen-Nürnberg, Deutsche Sporthochschule Köln, Gründer und Leiter der Akademie für Schach und Wissenschaft Baden-Baden)

Veröffentlicht in der sportwissenschaftlichen Fachzeitschrift Sportonomics ( Volume 4, 1998, No. 2, June, Seiten 97-104); der wegweisende Artikel wird hier in mehreren Teilen zugänglich gemacht. Selbstverständlich ist Wettkampf-Schach auch Sport.

Teil IV

Anwendung eines kognitiv-handlungspsychologischen Frameworks 

 

Ich versuche eine Vereinheitlichung der Psychologie auf kognitiv-handlungspsychologischer Basis und schöpfe gleichzeitig aus dem Erkenntnis- und Konzeptreservoir von Psychoanalyse, Humanistischer Psychologie und Behaviorismus. Viele Phänomene können in kognitiv-handlungspsychologischer Sichtweise am besten verstanden und beschrieben werden. Ich halte die Kognitive und Handlungspsychologie aus folgenden Gründen als Integrationsgrundlage für ausgezeichnet geeignet: Sie ist differenziert und flexibel genug, um sowohl innere Strukturen und Prozesse als auch äußere Bedingungen menschlichen Erlebens, Verhaltens und Handelns integrativ zu erfassen. Zentrale Konzepte dieses Ansatzes wie Handlung, Informationsverarbeitung oder Kognition erweisen sich in besonderem Maße als tauglich, essentielle Einsichten und Elemente aus anderen Richtungen aufzunehmen sowie Gleichartiges oder Ähnliches unter einem (neuen) Gesichtspunkt zu vereinen. Zudem besitzt diese Strömung, innerhalb der Psychologie, am meisten Anknüpfungspunkte zu Kognitiver Wissenschaft, Neurowissenschaften, Computerwissenschaft und Konnektionismus. Auch psychische Basismechanismen und Routinen (das „psychische Betriebssystem“ des Menschen) lassen sich am besten mit Konzepten des kognitiv-handlungspsychologischen Ansatzes beschreiben und verstehen. – Jüngste Entwicklungen der Grand Unification Perspective of Psychology seien nun vorgestellt.

 Grundlegende Informationsverarbeitungs- und Aktivitätsmechanismen – Das psychische Betriebssystem des Menschen 


In der GUPers werden Basismechanismen und Routinen menschlicher Informationsverarbeitung und mentaler Aktivität analysiert, die vermutlich bei allen psychischen Vorgängen eine Rolle spielen. Es geht hier um grundlegende Informationsverarbeitungs- und Aktivitätsmechanismen, allgemeine psychische Prozeßcharakteristiken sowie fundamentale Systemeigenschaften und Ressourcen des Menschen. Jene Grundmechanismen schaffen erst die Voraussetzungen für die vielfältigen psychischen Funktionen wie Aufnahme, Verarbeitung, Speicherung und Anwendung von Informationen sowie für ein ganzheitliches psychisches Systemgeschehen. Sie stellen gewissermaßen Konstanten des psychischen Systems dar, die unabhängig davon formuliert werden können, von welcher Position aus man sie betrachtet. Auf der Basis dieser Mechanismen entstehen auf einer neuen Funktions- bzw. Beschreibungsebene höhere psychische Fähigkeiten/Leistungen wie Kognition, Lernen, Gedächtnis und Sprache.

Das psychische Betriebssystem beinhaltet und organisiert die Basismechanismen, es sorgt für die elementare, interne (teilweise unbewußte) Steuerung, regelt fundamentale Systemabläufe und ermöglicht die vielfältigen psychischen Aktivitäten und Zustände.

Integrierte parallel-sequentielle-interaktive Verarbeitung (IPSI-Processing)

Das gemeinsame Zusammenwirken paralleler, sequentieller, aufwärts- und abwärtsgerichteter sowie (zwischen verschiedenen Ebenen) interaktiver Verarbeitung wird aufgezeigt. Auch in Hinblick auf sportliche Aktivitäten wird immer deutlicher, daß Menschen massiv parallel-arbeitende Systeme mit interaktiver Verarbeitung sind (in denen z. B. kognitive und motorische, sprachliche und nicht-sprachliche, bewußte und unbewußte Vorgänge gleichzeitig ablaufen).

Aus der Verbindung von sequentieller, paralleler, aufwärts- und abwärtsgerichteter sowie interaktiver Verarbeitung entsteht die erstmals von mir beschriebene Integrierte parallel-sequentielle-interaktive Verarbeitung (IPSI-Processing). Ich habe keine Zweifel, daß im Kopf eines Menschen alles tatsächlich „integrativ-parallel-sequentiell-interaktiv“ zusammenspielt; hier herrscht multiple Verknüpfung und Verarbeitung.

Emotionen, Motive sowie äußere Einflüsse können auf die Basismechanismen fördernd oder störend einwirken. Emotionale und motivationale Zustände wiederum beruhen – zumindest teilweise – auf den diskutierten Mechanismen und entsprechenden Basisprozessen.

Die Basismechanismen werden von unseren Hirnen realisiert, sie sind in der hier dargestellten (psychologischen) Form letztlich Abstraktionen aus dem verknüpften Geschehen von Milliarden Gehirnzellen. Vermutlich werden weitere Fortschritte der Neurowissenschaften auch die anatomisch-physiologischen Bedingungen und Substrate der postulierten Mechanismen aufzeigen.

Zwölf Prinzipien psychischen Geschehens

Aus den Erkenntnissen der Psychologie, der Gehirn-, Chaos- und Komplexitätsforschung sowie der modernen Physik habe ich schließlich Prinzipien und Charakteristiken psychischen Geschehens abgeleitet. Mit Hilfe dieser Prinzipien sollen psychische Vorgänge allgemein charakterisiert und besser verstanden werden. Sie beziehen sich auf Regelmäßigkeiten, die den psychischen Phänomenen – wie sie in den vier Hauptströmungen behandelt werden – gemeinsam sind, beispielsweise Selbstorganisation, Dynamik, Struktur- und Prozeßverschmelzung (Munzert 1997). Statt von Prinzipien könnte man auch von ubiquitären Mustern psychischen Geschehens sprechen. Diese hängen mehr oder weniger zusammen; ich will sie in Form von zwölf Prinzipien festhalten:

1. Das Prinzip der zugrundeliegenden Einheit und gemeinsamen Basis psychischer Phänomene
2. Das Prinzip der Komplexität und Emergenz psychischen Geschehens
3. Prinzip: Interaktivität und Dynamik psychischer Prozesse
4. Prinzip: Selbstorganisation und Entwicklung
5. Prinzip: Vielfalt, Variabilität und Polarität psychischer Zustände
6. Prinzip: Überlagerung und fließende Übergänge psychischer Prozesse
7. Prinzip: Unschärfe, Prozeß- und Strukturverschmelzung
8. Prinzip: Verbrauch psychischer Energie
9. Prinzip: Multiple Aktivierung und Transformation psychischer Vorgänge
10. Prinzip: Adaptivität, Kontextsensitivität und partielle Kontextabhängigkeit psychischer Aktivität
11. Prinzip: Subjektivität und psychische Relativität
12. Prinzip: Psychische Unbestimmtheit

Auf merkwürdige Weise scheinen diese Prinzipien für psychische Prozesse gleichermaßen grundlegend und übergeordnet zu sein. Vielleicht ist es am besten, sie als Invarianten im ordentlichen Chaos psychischen Geschehens zu verstehen. Aus Raumgründen können diese charakterisierenden Regelmäßigkeiten hier nicht erörtert werden (siehe Munzert 1997).

Wesentliche Aspekte der vorgestellten Prinzipien lassen sich immerhin in einer zusammenfassenden Beschreibung festhalten: Psychisches Geschehen beruht auf einer unteilbaren, facettenreichen Einheit, dem Menschen. Es ist ganzheitlich, komplex, dynamisch, interaktiv, selbstorganisierend, vielfältig, wechselhaft, kontextsensitiv, adaptiv, subjektiv-relativ und schwer vorhersagbar.

Neben den zwölf genannten Prinzipien postuliere ich ein übergeordnetes Prinzip der Ganzheitlichkeit und multiplen Verknüpfung psychischen Geschehens: Psychische Vorgänge stellen ein ganzheitliches Geschehen dar. Es besteht ein vielfältiges Ineinandergreifen der Komponenten des psychischen Systems (multiple Verknüpfung, Aktivierung und Verarbeitung). Einzelne Komponenten, Mechanismen oder Subsysteme lassen sich nur in analytischer Abstraktion isoliert betrachten; faktisch sind sie eng verwoben und ergeben ein mehr oder weniger kohärentes Ganzes. Man kann dies am besten am Gehirn erkennen. Alles ist in ein zusammenhängendes System eingebettet – oder anders formuliert: Die vielfältigen Verbindungen und Zusammenhänge ergeben eine komplexe, funktionale Einheit, ein Integriertes Psychisches System (IPS). Die Beziehungen zwischen den Subsystemen festigen die Einheit. Das Ganze emergiert – anders betrachtet – aus den Komponenten. Als kurze Zusammenfassung dieses übergeordneten Prinzips bieten sich die folgenden Worte Heraklits (um 500 v. Chr./1989, S. 9) an: „…aus Allem Eins und aus Einem Alles“.

Wird fortgesetzt

Dr. Reinhard Munzert 2023