März 29, 2024

Sport und die Vereinheitlichung der Psychologie (II)

Sport und die Vereinheitlichung der Psychologie 
Neue Entwicklungen der Grand Unification Perspective of Psychology 

Dr. Reinhard Munzert 
(vormals Universität Erlangen-Nürnberg, Deutsche Sporthochschule Köln, Gründer und Leiter der Akademie für Schach und Wissenschaft Baden-Baden)

Veröffentlicht in der sportwissenschaftlichen Fachzeitschrift Sportonomics ( Volume 4, 1998, No. 2, June, Seiten 97-104); der wegweisende Artikel wird hier in mehreren Teilen zugänglich gemacht. Selbstverständlich ist Wettkampf-Schach auch Sport.

Die Zusammenfassung in deutscher und englischer Sprache findet sich hier:

Sport und die Vereinheitlichung der Psychologie (I)

Immer mehr Wissenschaften streben – ähnlich wie die Physik – die Vereinheitlichung ihrer jeweiligen Ansätze und Konzeptionen an („unified theories“). In der Psychologie hingegen, stehen die wesentlichen Strömungen nach wie vor unverbunden nebeneinander. 

Die Uneinheitlichkeit der (Sport-) Psychologie

Kognitive und Handlungspsychologie, Psychoanalyse, Humanistische Psychologie und Behaviorismus haben relativ unterschiedliche Menschenbilder, Methoden und Theorien entwickelt. Jede dieser Strömungen untersucht und betont andere Aspekte des Menschen, seiner Motive, Kognitionen, Gefühle, Verhaltens- und Handlungsweisen. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Sportpsychologie. Bislang existiert kein übergreifender Ansatz, der die einzelnen Positionen integriert. Die Uneinheitlichkeit ihrer Wissenschaft betrachten viele Psychologen als unabänderlich. Dieser Pessimismus scheint mir unberechtigt. Im Bereich des Sports läßt sich zeigen, daß eine Verknüpfung der wesentlichen Strömungen möglich, erstrebenswert und fruchtbar ist.

Sport als Gegenstand psychologischer Betrachtungen

Die vielfältigen Phänomene des Sports bieten ein ausgezeichnetes Prüffeld für die Relevanz psychologischer Theorien. Menschliches Erleben und Handeln findet im Sport in intensiver, geradezu verdichteter Form statt. Freude, Lustgewinn und Euphorie liegen neben Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung. Gemeinschaftsgefühl, Harmonie und Schönheit stehen neben Kampf(geist), Ärger und Aggression. Zum Sport gehören gleichermaßen geplantes, strategisches und taktisches Handeln, Intuition und Kreativität, zudem impulsive, automatische oder routinisierte Verhaltensweisen. Schließlich wird Sport von Fairplay ebenso kennzeichnet wie von dem Bestreben, um jeden Preis – manchmal auch regelwidrig – zu gewinnen.

Der Sport stellt einen guten Bereich dar, um sowohl die zentralen Erkenntnisse und Stärken der einzelnen Richtungen aufzuzeigen, als auch ihre jeweiligen Einseitigkeiten und Defizite.

So hat die Kognitive und Handlungspsychologie eine große Beschreibungs- und Erklärungskraft bezüglich folgender Phänomene: Sportliche Aktivität als bewußtes, zielorientiertes Handeln; sportliche Tätigkeit als Informationsverarbeitung; bewußte (und rationale) Auswahl von Taktiken und Strategien; geplantes, systematisches Training und Wettkampfvorbereitung; langfristige sportliche Karriereplanung; Wechselwirkung von Person und Situation beim Sport.

Der Behaviorismus kann bezüglich folgender Aspekte herangezogen werden: Auslösung und Beeinflussung sportlichen Verhaltens durch Reize, z. B. Startschuß, Pfiff des Schiedsrichters oder Zuschauerverhalten; Aufrechterhaltung der Beschäftigung mit Sport durch positive Verhaltenskonsequenzen, z. B. Belohnung durch Geld, Reisen, sozialen Kontakt und Anerkennung; Einübung bestimmter Bewegungsabläufe (Shaping).

Die Humanistische Psychologie befaßt sich mit der Entdeckung, Entfaltung und aktiven Verwirklichung des eigenen Potentials, mit Kreativität und persönlichem Wachstum im/durch Sport; (bewußter) Befriedigung emotionaler und sozialer Bedürfnisse durch Sport; Gipfel- bzw. Flow-Erlebnissen.

Bestimmte Phänomene können (am besten) in psychoanalytischen Konzepten interpretiert werden: Ausagieren unbewußter Antriebe und Wünsche; Lustgewinn durch Sport; innere Konflikte und Sport; irrationales, aggressives oder masochistisches Verhalten; Abwehrmechanismen zur Verdrängung unangenehmer Aspekte sportlichen Tuns; Imitation und Identifikation mit Sportlern; Bedeutung früher und frühester (familiärer) Erfahrungen; Befolgung und Mißachtung selbst- und fremdgesetzter Normen; Ambivalenz gegenüber Sport oder Gegner.

Jede der psychologischen Hauptströmungen hat also ihre Plus- bzw. Schwerpunkte in verschiedenen Bereichen. Kein Ansatz ist allein in der Lage, alle psychischen oder psychologischen Phänomene des Sports hinreichend zu erfassen und zu erklären. Was die eine Richtung gut beschreiben und vielleicht sogar erklären kann, vermag die andere mit ihren Konzepten und Erkenntnissen nur sehr umständlich oder überhaupt nicht zu erhellen.

Ein Ansatz zur Vereinheitlichung der Psychologie: Grand Unification Perspective of Psychology



Meines Erachtens sind in Psychologie und Sportpsychologie mittlerweile die Voraussetzungen geschaffen, entschlossen an einer übergreifenden, integrativen Konzeption zu arbeiten. Im Verlauf der Entwicklung der Psychologie wurden beachtliche Fortschritte gemacht und wichtige Erkenntnisse über den Menschen gewonnen. Es besteht kein Zweifel, daß jede der Hauptströmungen bereits relativ gut ausgearbeitete Einzeltheorien erstellt und bedeutsame Ergebnisse errungen hat. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß die verschiedenen psychologischen Auffassungen und Einsichten sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern einander gut ergänzen und kompatibel sind. 



Aufgrund dieser Überlegungen habe ich eine Initiative ins Leben gerufen (Munzert 1988, 1991, 1993a), die eine gleichzeitige Berücksichtigung und gegenseitige Ergänzung der wesentlichen Strömungen der Psychologie anstrebt: Grand Unification Perspective of Psychology (GUPers). Dies schließt auch die Suche nach verbindenden Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen ein: gemeinsames Menschenbild, inhaltliche Übereinstimmungen, psychische Basismechanismen, allgemeine Charakteristiken und übergeordnete Prinzipien psychischen Geschehens. Das wichtigste Ziel dieses Projekts besteht darin, die Grundlagen für eine Verbindung der Hauptströmungen der Psychologie und ihrer wesentlichen Aussagen über den Menschen zu schaffen und dadurch zu einer Erneuerung der Psychologie beizutragen. 



Letztlich sollen diese integrativen Anstrengungen zu einer einheitlichen Konzeption führen, die für Verständnis, Beschreibung und Erklärung aller psychischen Phänomene eine geeignete Grundlage bereitstellt. Auf lange Sicht könnte auf der Basis der GUPers – durch Vertreter der verschiedenen Richtungen gemeinsam vorangetrieben – eine vereinigte Psychologie mit einem umfassenden Menschenbild entstehen. Mein Vorschlag zur Bezeichnung eines solchen übergreifenden theoretischen Systems lautet: „The Grand Unification Theory of Psychology“ (GUTPsych). Die GUTPsych sollte über alle Hauptansätze hinweg (approximativ) ein Gesamtbild der Psychologie ergeben. Selbstverständlich ist auf diesem Kurs Geduld angebracht. Die Grundgedanken und das Ziel dieser Initiative werden in der Abbildung schematisch dargestellt. 



Figure 1: Grand Unification Perspective of Psychology (siehe oben)





Unifikationspostulate und Integrationsleitlinien 



Bei meinen frühen Integrationsbemühungen ging ich zunächst von intuitiven Annahmen über das geeignete Vorgehen aus. Später formulierte ich Unifikationspostulate und Integrationsleitlinien und orientierte mich ausdrücklich an diesen. Hier seien einige Postulate und Leitlinien der GUPers aufgeführt. 



Ganzheits-Postulat: Der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen bzw. ein komplexes integriertes System. Er kann nur im Rahmen einer holistischen Sichtweise adäquat und umfassend verstanden werden. Ein ganzheitliches Verständnis des Menschen durch die moderne Psychologie ist erforderlich und möglich. 



Kompatibilitäts-Postulat: Eine sinnvolle Verbindung von Erkenntnissen der Hauptströmungen der Psychologie ist möglich; die einzelnen Ansätze sind kompatibel. 



Mit den obigen Postulaten korrespondieren Integrationsleitlinien. Die Äquivalenz-Leitlinie sei vorgestellt: Alle Hauptströmungen können einen Beitrag für ein umfassendes Menschenbild sowie die Weiterentwicklung und Vereinheitlichung der Psychologie leisten. Sie werden – in ihrer Verschiedenheit – als gleichberechtigt und (annähernd) gleichwertig betrachtet. Ihre wesentlichen Erkenntnisse sollen berücksichtigt werden! Diese Richtlinie lehnt eine „Entweder-oder-Haltung“ ab und favorisiert eine „Sowohl-als-auch-Betrachtung“. 



Vorteile einer vereinigten Psychologie 



Als Vorteile einer einheitlichen Psychologie sehe ich folgende Punkte: Defizite und Schwächen eines Ansatzes können jeweils durch Stärken eines anderen ausgeglichen werden. Es entsteht eine erhöhte Beschreibungs- und Erklärungskraft. Eine umfassendere Perspektive ermöglicht eine erweiterte und ganzheitliche Sichtweise der menschlichen Natur. Außerdem ergeben sich verbesserte Anwendungs- und Forschungsmöglichkeiten. Die Kompetenz zu vernetztem Denken und Handeln wird bei entsprechend ausgebildeten Psychologen gesteigert. Überdies wäre eine einheitliche Psychologie ein starker und attraktiver Partner für andere Wissenschaften. Schließlich scheint auch eine elegantere wissenschaftliche Konzeption und eine neue Identität für Psychologen möglich. 

Wird fortgesetzt

Dr. Reinhard Munzert 2023