November 12, 2024

Revolte der Spitzenspielerinnen und Chessdrama 2 – Was ist da los in Indien?

Jede Menge Turbulenzen gibt es aktuell beim FIDE Grand Prix der Frauen in Delhi (Indien). Eigentlich sollte das Turnier vom 24. März bis zum 6. April ausgetragen werden. Indien schien als Austragungsort perfekt, denn schließlich hat das Land gerade eine begeisternde Schacholympiade ausgetragen.

Die Partien der Spielerinnen haben aber entgegen der Planung noch nicht begonnen, die 1. Runde wurde ausgesetzt und eine Fortsetzung ist offen .

Bereits im Vorfeld war das Turnier überschattet vom Rückzug der ukrainischen Muzychuk-Schwestern. Als Grund wird die Teilnahme der russischen Spielerinnen Kosteniuk (die allerdings kürzlich in die Schweiz wechselte) und Lagno vermutet. Ganz schlüssig ist das aber nicht, hatten doch gerade die Muzychuk-Schwestern sich geweigert, einen Brief an die FIDE zu unterschreiben, in dem die Sperre russischer Spielerinnen gefordert werden sollte. Auch Susan Polgar setzt ein Fragezeichen hinter die Motive:

Doch bei der Absage der Muzychuk-Schwestern blieb es nicht. Vor Ort zog die kasachische Großmeisterin Zhansaya Abdumalik überraschend aus Unzufriedenheit aus dem Turnier zurück.

Auch andere Spielerinnen klagten offenbar über die Behandlung und insbesondere darüber, nicht vom Flughafen abgeholt worden zu sein.

Die Ereignisse führten schließlich dazu, dass die für heute (25.03.) angesetzte erste Runde nicht ausgetragen wurde. ChessBase India informierte über die Deklarierung als Ruhetag.

Was in Indien zwischen den Spielerinnen im Einzelnen diskutiert wurde, drang natürlich nicht komplett nach außen. Aber offensichtlich ging der Entschluss der Spielerinnen so weit, die FIDE um eine Absage zu bitten. Auf dem Account von MrDodgy wurde der nachfolgende Brief veröffentlicht, der vom Account von Elisabeth Pähtz an den FIDE-Generalsekretär Emil Sutovsky und weitere Offizielle geschickt worden sein soll. Darin wird ausgeführt, „Dinge im Frauenschach, speziell in Bezug auf professionelle Organisation und Betreuung von Turnieren in der Vergangenheit in eine unglückliche Richtung gegangen sind“.

FIDE-Präsident Dvorkovich veröffentlichte am 25. März um 15 Uhr auf der FIDE-Homepage einen Entschuldigungsbrief im Namen der FIDE. In diesem verkündete er allerdings die Fortsetzung des Turniers mit den restlichen elf Spielerinnen. Er nannte zugleich Maßnahmen, die die FIDE ergreifen werde, um die Missstände künftig zu beheben. Des Weiteren betonte er die Bemühungen, die die FIDE in seiner Amtszeit um das Frauenschach unternommen habe. Hier der Link zum vollständigen Dvorkovich-Brief.

Bemerkenswert ist vor allem die Einleitung der Pressemeldung vor dem Brief, in der von „an apology for the errors of local organisers“ die Rede ist, also die Schuld den indischen Organisatoren zugeschoben wird. Ob diese Formulierung freilich von Dvorkovich kommt oder zum Beispiel von FIDE-Marketingchef David Llada oder einem anderen Pressemitarbeiter, ist nicht klar. Denn wie gesagt steht die Formulierung außerhalb des Dvorkovich-Briefes. Auf Twitter kommt die Formulierung jedenfalls gar nicht gut an:

WIM Patricia Llaneza aus Spanien fasst die Pressemitteilung der FIDE etwas ketzerisch zusammen:

Zurück zum Rückzug von Abdumalik und der Kritik der weiteren Spielerinnen: Deren Motive wurden von der französischen Seite Europe Echecs beleuchtet. Entscheidend war wohl wie beschrieben, dass keine Abholung am Flughafen stattfand und dass außerdem kein FIDE-Funktionär anwesend war. Schließlich sei auch noch das Frühstück nicht im Preis inbegriffen. Und zuletzt stehe das Turnier auch terminlich in Kollision zu anderen Turnieren. Gemeint sind hier wohl die aktuell stattfindende Frauen-EM sowie das bevorstehende Frauen-Kandidatenturnier in China. Eine Kollision zur Männer-WM zwischen Ding und Nepo (hier die Vorschau) besteht nicht, denn diese beginnt genau einen Tag nach (geplantem) Ende des Frauen Grand Prix.

Hier die ausführliche Darstellung der Seite:

Interessant ist dabei auch, dass die Spielerinnen es ablehnten, Abdumalik durch eine andere, indische Spielerin ersetzen zu lassen.


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Offensichtlich sind jedoch nicht alle Spielerinnen mit Abdumaliks Rückzug einverstanden. Und hier kommt die amtierende Blitz-Weltmeisterin Bibisara Assaubayeva ins Spiel. Sie hatte zwar den o.g. Brief an die FIDE zur Absage des Events mitunterschrieben, distanziert sich nun jedoch ausdrücklich von Abdumaliks Rückzug und wirft dieser mangelnden Sportsgeist vor. Auch wenn der Facebook-Übersetzungsfunktion sicherlich nicht zu 100% zu trauen ist, verstört das Ende der Stellungnahme, in der Assaubayeva ihrer Kollegin Abdumalik („Jansaya“) empfiehlt, sich an den Herd zu stellen und Borschtsch zu kochen.

Die Antwort von Abdumalik ließ nicht lange warten. Auf Facebook schrieb sie:

„Ich habe versucht, die wiederholten unethischen Werte von Bibisara Assaubayeva zu ignorieren, aber anscheinend ist die Zeit gekommen, aufzugeben“ (vermutlich ein Übersetzungsfehler und gemeint ist: „die Zeit gekommen, mit dem Ignorieren aufzuhören“).

Abdumalik wirft Assaubayeva somit widersprüchliches Handeln vor, da sie ja den Brief an die FIDE unterschrieben hat, sich aber jetzt plötzlich gegen Abdumalik wendet. Abdumalik veröffentlicht auch als Anlage den Brief an FIDE, so dass zu vermuten ist, dass der oben genannte Mr Dodgy ihn von Abdumalik übernommen hat. Überraschenderweise veröffentlicht Abdumalik auch die E-Mail-Adressen einiger Beteiligter inklusive Dvorkovich – inzwischen ist dieser Screenshot aber wieder gelöscht.

Wie das Ganze zu werten ist, wird sicherlich unterschiedlich beurteilt werden. In der deutschen Twitterszene solidarisiert man sich offenbar überwiegend mit Abdumalik und prangert die stiefmütterliche Behandlung des Frauenschachs an:

In dieselbe Kerbe schlug zuvor bereits der als DSB-Vizepräsident kandidierende Paul Meyer-Dunker:

Das Diskriminierungsargument in Bezug auf den Preisfonds will Peter Heine Nielsen, der Trainer von Magnus Carlsen, allerdings nicht gelten lassen.

Interessant ist allemal, dass diese Diskussion sich gerade beim Frauen Grand Prix entzündet, da gerade der Frauen Grand Prix in Astana vor einem halben Jahr von einem sexistischen Vorfall begleitet worden war. Der von der FIDE als Kommentator eingesetzte GM Ilya Smirin hatte damals die Ansicht geäußert, dass Schach nichts für Frauen sei.

Ob eine Spitzen-Schachspielerin eine Abholung vom Flughafen erwarten darf und ob die fehlende Abholung, die Abwesenheit eines FIDE-Offiziellen sowie das Frühstücksproblem einen Rückzug rechtfertigen, wird sicherlich unterschiedlich beurteilt werden. Jedenfalls das Frühstücksargument überzeugt nicht alle:

Letztendlich scheint dies für viele Spielerinnen der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. So lässt sich auch die Äußerung von Dvorkovich in dem Brief verstehen, dass die Spielerinnen weitere Themen („broader issues“) aufgebracht hätten.

Dass die FIDE nun für eine Fortsetzung des Turniers plädiert und versucht, die Wogen zu glätten, ist aus ihrer Sicht verständlich, da die – von den Spielerinnen ja kritisierten – Probleme der Terminfindung bzw. Terminkollisionen bei einer Neuansetzung sicherlich nicht besser werden.

Ein Sturm im Wasserglas? Vermutlich wird zumindest der persönliche Streit zwischen Abdumalik und Assaubayeva weiter gären. Bekommen wir hier ein Chessdrama 2? Auch weitere Themen sind noch zu bearbeiten, wie z.B. der fehlende Ausrichter für die anstehende Fortsetzung im Mai. Wie schon bei der Männer-WM zwischen Ding und Nepo zu sehen, hat die FIDE offenbar momentan Probleme, (rechtzeitig) Ausrichter für ihre Veranstaltungen zu finden (siehe Punkt 4 des folgenden Tweets):

Ansonsten bleibt zu hoffen, dass die FIDE die von ihr angekündigten Verbesserungen zugunsten der weiblichen Spielerinnen auch tatsächlich vornimmt. Und nicht zuletzt besteht die Hoffnung, dass wir in Neu Delhi auch noch schachliche Glanzlichter sehen werden, über die zu berichten sich gleichermaßen lohnt wie über die bemerkenswerten Ereignisse heute. Hilfreich für das Frauenschach scheint das Ganze jedenfalls nicht zu sein, so sieht es jedenfalls Susan Polgar:

Nachtrag 25.03.2023, 22:30 Uhr:

Inzwischen hat auch Elisabeth Pähtz auf Facebook eine Erklärung abgegeben, in der sie ihre Sicht der Ereignisse darlegt und Assaubeyava eine Lüge vorwirft:

Übersetzung:

Liebe Schachfreunde. Ich hatte nicht vor, irgendetwas Privates von der aktuellen emotionalen Achterbahnfahrt während des Fide Grand Prix in Delhi zu posten, aber einige Dinge sind zu unerwartet, als dass ich darüber schweigen könnte. Zhansaya Abdumalik schied nach Tag 1 aus dem Turnier aus. Sie ging, weil sie am Flughafen und später im Hotel auf sehr unglückliche Weise ernsthafte Probleme hatte. Der größte Kern dieses Problems war eine unzureichende Organisation durch Fide-Funktionäre.

Der größte Kern dieses Problems war eine unzureichende Organisation durch Fide-Funktionäre. Sie ist nicht gegangen, weil sie beschlossen hat, das Turnier zu zerstören, wie ihre Landsfrau Bibisara Assaubayeva hier behauptet. Als Bibisara von ihrem Rückzug und einer möglichen neuen indischen Gegnerin erfuhr, war sie die erste, die anderer Meinung war und sogar das Turnier vor allen anderen beenden wollte

5 Spielerinnen, darunter sie selbst, unterschrieben einen Brief und überzeugten Fide, das Event zu verschieben, da Emotionen alles übernahmen und viele Spieler mit ernsthaften emotionalen Ausbrüchen konfrontiert waren. Über Nacht änderte Bibisara ihre Meinung und informierte Fide. Darüber hinaus hat sie Zhansaya während des offiziellen Zoom-Telefonats mit Fide-Funktionären schlechtgemacht.

Zu behaupten, sie habe den Brief nie unterschrieben und sie habe das Turnier nie aufgeben wollen, ist eine Lüge von Bibisara Assaubayeva und ich vermute, um den Ruf ihrer Landsfrau zu schädigen, nicht mehr und nicht weniger. Da Bibisaras Post auf Instagram geteilt und weit verbreitet wurde, kann ich bestätigen, dass 4 andere Spieler es nie gewagt hätten, ihren Namen ohne ihre Erlaubnis in einen Brief zu schreiben! Bitte teilen!

 

Nachtrag 26.03.2023, 09:00 Uhr:

Die Probleme mit dem Hotel schilderte mir Elisabeth Pähtz in einer Nachricht noch einmal genauer: Vier der Spielerinnen mussten von 5-8.30 Uhr im Hotel in der Lobby ausharren, weil ihre Zimmer nicht fertig waren. Man bot ihnen Frühstück für 25 Euro an. Dazu kamen noch andere Probleme wie z.B. die Aufforderung, die Zimmer zu wechseln, sowie Anrufe des Hotels auf dem Zimmer, während die Spielerinnen schliefen. Außerdem sagt sie: „Der Grund der Aufregung liegt viel tiefer….„, bestätigt also vorausgehende Probleme während des Kandidatenturniers sowie beim Grand Prix in München.

Die Situation am Flughafen schildert sie auf Twitter so:

Und auch Zhansaya Abdumalik hat sich nochmal geäußert. „Wir haben es verdient, unter guten Bedingungen zu spielen“, schreibt sie.

Und was macht derweil die FIDE? Sie hat das Profil von Zhansaya Abdumalik auf der offiziellen Homepage des FIDE Grand Prix gelöscht:

To be continued…