März 29, 2024

Schach und Quantenphysik: Mentaler Hauch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit

Schach und Quantenphysik: Der mentale Hauch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit


DER MENSCHLICHE FAKTOR

„Der eigentliche, feinste Reiz des Schachspiels liegt darin, dass man dabei geistig produktiv tätig ist… da kann, da muß jeder geistig produzieren…“ (Großmeister Dr. S. Tarrasch 1935, S. 4)


Beginnen wir mit dem menschlichen Faktor im Schach.

Der mentale Hauch der Spieler


Der entscheidende Faktor beim Schachspielen sind natürlich die Spielerinnen und Spieler bzw. der „vorausdenkende, gestaltende Menschengeist, der erst den toten Steinen Leben einhaucht“, wie Großmeister Réti (1922, 1978, S. 17) so schön formulierte. Es ist klar, dass Schach ohne Spieler nur eine hölzerne Theorie wäre, also denkende und handelnde Akteure benötigt, die die Figuren mental und konkret bewegen. (Zu Schachcomputern bzw. -Programmen, Engines, Neuro-Schachcomputern kommen wir in späteren Beiträgen.)

Schachspielen als Handeln


Schachzüge werden in der Schachliteratur oft als Handlungen oder englisch „actions“ bezeichnet. „Jeder Zug ist ein bewusstes Handeln“ (Silbermann & Unzicker 1979, S. 331). Großmeister Fine (1989, S. 1) betrachtet Schach als „combination of theory and action“ und spricht von „action or moves in chess“.
Auch der erste Schachweltmeister Steinitz beschreibt die Schachzüge als (1889, S. XXVII) „the movements or actions of the combatants“.

Das Umsetzen von Gedanken in Handlungen 


Zutreffend bemerkt Linder „…erfolgt in der ganzen Schachpartie ein fortwährendes Umsetzen von Gedanken in Handlungen“ (1986, S. 72).


Wobei wir wieder bei Einstein sind: „Schach ist das schnellste Spiel der Welt, weil man in jeder Sekunde Tausende von Gedanken ordnen muss.“ Einmal wird Einstein in diesem Kontext auch so interpretiert: „Ein Zug auf dem Brett sind hundert Züge im Kopf.“ [zeit.de] , dies ist aber wohl kein original Einstein, – trotzdem gut!

Schachmeister Teschner schreibt in dieser Hinsicht vom „schnellsten aller Spiele“ (1972).

Das Mögliche und das Faktische -Dimension Zukunft


Heisenberg (1988, S. 82) erinnert sich an eine Aussage Einsteins, die auch ein zentrales Prinzip der Quantentheorie darstellt: „Das Mögliche, das zu Erwartende, ist ein wichtiger Bestandteil unserer Wirklichkeit, der nicht neben dem Faktischen einfach vergessen werden darf.“

Heisenberg selbst betont (1988, S. 283): „… die Wellenfunktion der Quantentheorie stellt das Mögliche und nicht das Faktische dar“.  

Das erkenntnisreiche Büchlein Quantentheorie und Philosophie (Heisenberg 1979/2014 Reclam) habe ich mit großem Gewinn studiert und darin Die Geschichte der Quantentheorie gelesen. Ich fand dort diese brillante Beschreibung der Wahrscheinlichkeitswelle (Grundlage der Wellenfunktion): „Mit der Wahrscheinlichkeitswelle wurde ein völlig neuer Begriff in die theoretische Physik eingeführt… Sie bedeutete so etwas wie eine Tendenz zu einem bestimmten Geschehen… Sie führte eine merkwürdige Art von physikalischer Realität ein, die etwa in der Mitte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit steht“ (Heisenberg 2014, S. 17-18). 

Das passt doch genau auf Schach! Auf die mentale (Zwischen-)Realität im Kopf eines nachdenkenden Schachspielers während der Partie. „Tendenz zu einem bestimmten Geschehen…“ und „Realität, die etwa in der Mitte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit steht“ – Könnte mein Lieblingszitat der Quantentheorie werden, spüre schon eine gewisse Tendenz dazu.  

   Einstein und Infeld nochmals zur Quantenphysik: „Nicht Eigenschaften, sondern Wahrscheinlichkeiten werden beschrieben…“ (1987, S. 258).  

Auch hier gibt es Parallelen zum Schach. So versuchen Schachspieler immer wieder aus einem Meer von Möglichkeiten, die Beste oder wenigstens eine erfolgversprechende bzw. wirkungsvolle zu realisieren. Wahrscheinlichkeiten statt Sicherheiten sind die Basis des Handelns und Hoffens. Silbermann & Unzicker (1979, S. 351): „Die eigentliche Dimension des Schachs ist die Zukunft. Nicht die Stellung der Figuren auf dem Brett, sondern jene Position, zu der die Spieler nach Durchrechnung oft sehr komplizierter Zugreihen in Gedanken gelangen, bestimmt die Wahl des Zuges. … die gegebene Stellung – die Gegenwart – (dient) der Erkenntnis kommender Dinge.“


Für beide, Quantenphysik und Schach, kann man kurz festhalten: Nicht nur was ist, ist real, auch was möglich ist, ist realistisch. 

Das gilt auch für das SCHACH-Prozess-Modell, das in den nächsten Beiträgen vorgestellt wird.

Dr. Reinhard Munzert