April 16, 2024

Schach und Klassische Physik

3. Kapitel  Schach und klassische Physik: Kraft, Raum, Zeit, Bewegung

„Diese drei Faktoren, Kraft, Raum und Zeit, wirken also bei jedem Zuge zusammen“ Großmeister Dr. Siegbert Tarrasch (1931, S. 327).

Betrachten wir die klassische Physik – also noch ohne Quantenmechanik

Kraft, Raum, Zeit

Schachmeister Tarrasch (1862-1934) erklärt in seinem Standardwerk „Das Schachspiel“ (1931, S. 311): „Drei Faktoren sind es, aus denen das Schachspiel besteht, Kraft, Raum und Zeit. Die Kraft, das sind die Streitkräfte, über die jeder Spieler verfügt, die Schachsteine, die ja Symbole für Kräfte sind. Der Raum, das ist das Brett, auf dem die Steine zweckmäßig zu gruppieren sind. Und die Zeit ist, da immer abwechselnd gezogen wird, die Ausnützung des Rechtes bzw. die Erfüllung der Pflicht zu ziehen… Die Kräfte bestehen aus Figuren oder Offizieren und Bauern“. –

Das klingt doch nach Physik! (Nebenbei festgehalten: Figuren, Brett und Spieler bestehen natürlich aus Materie / Quanten). 

Grundlegend sind auch ähnliche Ausführungen des russischen Schachmeisters Snosko-Borowsky (1884-1954) in seinem Klassiker Das Mittelspiel im Schach (1926 bzw. 1995). Über „die Elemente des Schachs“ schreibt er (S. 1) u.a.: „Das Schach, das tiefste aller bestehenden Spiele, verläuft in strengen Gesetzen,…ähnlich denen der Mathematik oder Mechanik…

Die Elemente des Schachs sind:
1. Kraft, die den Schachfiguren beigelegt ist und sich auswirkt in
2. Raum, dargestellt durch das Schachbrett, und
3. Zeit, sich zusammensetzend aus den Zügen.
Das ganze Spiel ist eine Verbindung dieser drei Elemente…“.
Und: „Zeit und Raum sind die Bedingungen des Schachspiels. Das aktive Element ist die Kraft, die Zeit und Raum verbindet…“ (Snosko-Borowsky 1926/1995, S. 10).

Kraft und Wirkung von Schachfiguren


Auch andere Schachautoren haben über Kraft und Wirkung von Schachfiguren geschrieben. Hier einige Beispiele, es sei dahingestellt, ob es sich dabei schon um eine kleine Schach-Physik handelt.


Im ehrwürdigen Handbuch des Schachspiels von 1843 (Nachdruck 1979) systematisiert Bilguer das damalige Schachwissen. Bei Erörterung des Wertes verschiedener Schachsteine behandelt er auch die Kraft der Steine und ihre jeweils momentane Wirkung. Die folgenden Ausführungen seien wegen ihrer Formulierungen zitiert, der Inhalt ist heutzutage vielen Freunde des Schachs selbstverständlich bekannt: „Unter allen Steinen hat die Dame die größte Kraft… Der Turm ist nächst der Dame der stärkste Stein… Die Bauern, obgleich von großer Wichtigkeit, sind doch einzeln betrachtet, die schwächsten Steine…“ (S. 12). 

Bei der „Wirksamkeit“ einer oder mehrerer Figuren „kommt hier Alles auf die jedesmalige Stellung des Spiels an“ (S. 12).

Unter der Überschrift „Allgemeine Regeln zur Eröffnung und Führung des Spieles“ finden sich einzelne Hinweise zur „Wirksamkeit“. So sollen Springer und Läufer in der Eröffnung „auf Felder gestellt werden, wo sie einen möglichst großen Wirkungskreis haben“ (1843/1979, S. 41). – Fraglos handelt es sich dabei um den lokalen Wirkungskreis auf dem jeweiligen Schachbrett, leider noch ohne Fernwirkung.

Schlagkraft – „Forces“, „powers“ and „movements / actions“


Der erste Schachweltmeister Wilhelm Steinitz (1836-1900) schreibt von „forces“ and „their powers“. Hinsichtlich des Partiebeginns führt er aus (1889, S. XXVII): „Both parties are placed on a perfectly equal footing on starting, as regards the forces and their respective powers, and the same rules regulate the movements or actions of the combatants“.


Der legendäre Schachweltmeister Bobby Fischer

Fall B. Fischer: Verfolgungswahn, der keiner war

und seine Mitautoren Margulies & Mosenfelder sprechen von „Schlagkraft“ der Figuren (1981, S. 74) und verwenden folgende schlagkräftige Formulierung: „Das Mattsetzen ist das K.o. des Schachspiels“ (S. VIII). 


Kraftlinien und dynamische Möglichkeiten / Kräftekonstellation & Kräftesystem / Bewegungsenergie


Von Weltmeister Aljechin wird berichtet, dass er (beim Blindschach) Schachsteine als „Kraftlinien“ sah (Holding 1985, S. 52-53). Ähnliches visualisierten einige Teilnehmer einer Untersuchung zum Blindschach (Binet 1893/1894; zusammenfassender Überblick zu den bedeutenden Untersuchungen des Gedächtnis- und Intelligenzforschers A. Binet findet sich in Munzert 1988 & weiteren Auflagen, S. 195-197).

Schachforscher De Groot führt in Hinsicht auf eine zeichnerische Darstellung (1965, S. 4) jener „Kraftlinien“ aus: „…lines of force that go out from them (the pieces) and that schematically represent their dynamic possibilities“ (1965, S. 5).

Schachgroßmeister Dr. Hübner spricht in Hinblick auf die „Stellung der Steine“ von „Kräftekonstellation“ (in Harenberg 1981, S. 102) und davon, „bestimmte Probleme in diesem Kräftesystem zu lösen“ (S. 114).


Die drei Moskauer Psychologieprofessoren Djakow, Petrowski & Rudik führten mit Schachmeistern beim Internationalen Turnier in Moskau 1925 experimentelle Untersuchungen durch. In ihrem Büchlein Psychologie des Schachspiels (1927, Reprint 2001) beschreiben sie „die Dynamik der Schachfiguren als der Träger potentieller Wirkungen und Bewegungen (des Angriffs und der Verteidigung), als der ‚Kraftmittelpunkte‘, die durch ihre Bewegungsenergie alle Felder des Brettes – die besetzten wie die freien – anfüllen“ (S. 12).

Die Bezeichnung „Kraftmittelpunkte“ für die Schachfiguren ist beachtenswert, ebenso wie deren Auswirkungen, „ihre Bewegungsenergie“, auf die Schachfelder, beschrieben wird.

Klassische Mechanik, Psychomechanik des Schachspiels, Schachmechanik?

Kurzexkurs
Die klassische Mechanik der Physik – nicht zu verwechseln mit Quantenmechanik – umschreibt der Physiker Bublath (1992, S. 103) kurz wie folgt: „Theorie von der Bewegung der Körper unter dem Einfluß äußerer Kräfte“. 

 

Für ihre Untersuchungen, sie nennen diese „psychotechnische Experimente“ prägten Djakow & Kollegen die Bezeichnung „Psychomechanik des Schachspiels“ (1927/1991 S. 23-24, 26) in Bezug auf Denkkraft, Wille, Denkaktivität der Spieler (S. 21) und überhaupt für die „verschiedenen psychischen Funktionen im Schach“ (S. 26)). Rückblickend kann man sagen, der Begriff „Psychomechanik“ hat sich zwar nicht durchgesetzt, aber immerhin schon etwas Physik konzeptionell enthalten. Wenn man bei „Bewegung von Körpern unter dem Einfluss äußerer Kräfte“ auch Züge von Schachfiguren durch den Einfluss von Schachgedanken und entsprechenden Handlungen einbezieht, dann war eine Schachmechanik gar nicht weit weg vom Brett, nämlich in Kopf und Hand der Spieler oder wie Djakow et al. es nennen: der „Psychomechanik des Schachspielers“ (S. 51).

– Allerdings fehlt bei dieser Betrachtung etwas ganz Zentrales, das in der klassischen Mechanik nicht vorkommt: Information. Information ist wiederum eine zentrale Komponente der modernen Quantenphysik sowie im Schach. Dazu in späteren Kapiteln ausführliches Informations-Material.

Dr. Reinhard Munzert