April 23, 2024

Hauen und einmal Stechen bei den russischen Meisterschaften

In den letzten fünf Runden der russischen Meisterschaften ist viel passiert. Einige meiner Prognosen zum Ruhetag sind eingetreten, andere nicht – das kommt nach und nach im Bericht. Vorab ein paar Fragen mit Antworten:

Ist „positiv“ immer eine gute Nachricht? Das war vielleicht mal der Fall, mittlerweile nicht mehr.

Wird man mit theoretisch bekannten Kurzremisen Meisterin oder Meister? Ja, wenn man in diesen Partien Schwarz hat – auch dann gibt es eine Ausnahme zu zwei bis drei Regeln. Geschafft haben es – siehe Titelbild – Goryachkina und Nepomniachtchi, Matlakov schaffte es nicht. Alle Fotos wieder vom russischen Schachverband, das (momentan seltene) Angebot habe ich reichlich genutzt.

Gewinnt bei russischen Meisterschaften der/die Elo-favorisierte Spieler(in)? Anno 2020: Ja! Langfristig betrachtet: manchmal.

Kann man/frau dabei in neue Elozonen vorstoßen? Nein. Für Nepomniachtchi war 2800+ zwischendurch in Reichweite. Goryachkina tat nie mehr, als ihre aktuelle 2593 zu bestätigen.

Zuerst die Ergebnisse, Ladies und Mädels zuerst: Goryachkina 8/11+2/3, Shuvalova 8/11+1/3, Kosteniuk, Guseva, Kashlinskaya, Garifullina 6.5/11, Galliamova und Pogonina 6, Girya 4, Gunina 3.5, Grigorieva 2.5, Getman 2. Die Damen hatten teils recht unterschiedliche Turniere vor und nach dem Ruhetag, das galt vor allem für die Mädels: für Shuvalova (*2001) nach 6/6 noch 2/5, für Garifullina (*2004) 4/6+2.5/5, für Getman (*2003) 1.5/6 und 0.5/5. Hat sich denn gar niemand verbessert? Dochdoch, für Grigorieva (*2002) nach 0.5/6 noch 2/5 – das lag vor allem daran, dass eine meiner Prognosen bei Halbzeit tatsächlich eingetreten ist.

Siegerin der zweiten Turnierhälfte war allerdings Kashlinskaya, nach 2.5/6 dann 4/5. Zu Beginn glänzte sie, nach eigener Aussage etwas aus Versehen, mit einem Damenopfer. Am Ende gewann sie ein Damenendspiel und verursachte damit Gedränge auf Platz 3 – Tiebreak-Vorteil Kosteniuk. Das ist wichtig, da Bronze auch direkte Qualifikation für die nächste russische Meisterschaft bedeutet.

Bei den Herren: Nepomniachtchi 7.5/11, Karjakin 7, Fedoseev und Dubov 6.5, Chigaev und Artemiev 6, Svidler und Vitiugov 5.5, Esipenko und Matlakov 5, Goganov 3.5, Antipov 2/6. Viele Pärchen in der Tabelle, nur vorne nicht und hinten auch nicht. Damit am Ende keine Wiederholung der russischen Meisterschaften 2010, damals Stichkampf Nepomniachtchi-Karjakin um den Titel (damals Vorteil Nepo). Beide trudelten oder taumelten etwas ins Ziel, dabei schien immer klar dass einer von ihnen Meister werden würde. Sieger der zweiten Hälfte war Dubov mit 3.5/5, aber das reichte wie bei Kashlinskaya nicht einmal für Bronze.

Was war los mit Antipov? Eingangs schrieb ich ja, dass „positiv“ momentan nicht immer eine gute Nachricht ist – nach einem positiven Corona-Test musste er das Turnier verlassen. Da er sechs von elf Partien gespielt hatte, wurden die fünf weiteren als kampflose Niederlagen gewertet. Den Kampf um den Turniersieg hat es nicht beeinflusst, da er vor dem Ruhetag am Brett gegen Karjakin und Nepo verloren hatte.

Um ein Haar wurden noch weitere Spieler(innen) disqualifiziert:

Nepomniachtchi und Fedoseev zeigten ihren Unmut über Plexiglas-Trennscheiben recht deutlich. Aber nur im Fussball wird Einsatz von Ellenbogen mit einer roten Karte bestraft, falls der Schiedsrichter es bemerkt.

Auch Kosteniuk stand unter Corona-Verdacht, aber eine ehemalige russische Meisterin und Weltmeisterin kann man ja nicht deswegen disqualifizieren. Also:

Schluss mit oben ohne, ab sofort Maskenpflicht! Nein, diese Story habe ich erfunden, aber die beiden Fotos (eine recht einfache „finde den Unterschied“ Aufgabe) stehen in der Galerie des russischen Schachverbands nebeneinander.

Und nun Runde für Runde, Damen und Herren diesmal abwechselnd durcheinander, wobei ich bei den Herren beginne – denn da trafen die Elofavoriten (vor dem Turnier) und Titelfavoriten (während dem Turnier) aufeinander.

Runde 7 Herren:

Nepomniachtchi-Karjakin wurde dann nicht, wie von mir erwartet, Remis – Weiß gewann erstaunlich glatt. In einem Nimzo-Inder hatte Nepo eine Neuerung vorbereitet – nicht 4.f3!?, das gab es bereits, sondern 15.Lf4. Das kostete Karjakin zunächst Bedenkzeit, und dann die Partie da er im 18. Zug daneben griff. Nach 32 Zügen hatte Nepo nicht nur fast eine Stunde Vorteil auf der Uhr, sondern auch entscheidenden Vorteil auf dem Brett.

Diese Partie war letztendlich turnierentscheidend, vorläufig aber nur eine Vorentscheidung da Karjakin Nepomniachtchi danach wieder einholte. Die anderen Partien dieser Runde ignoriere ich mal und wechsle zu den Damen:

Runde 7 Damen:

Warum beginne ich mit dem einzigen Remis der Runde? Es war turnierrelevant, dass Shuvalova gegen Garifullina nur Remis spielte.

Garifullina wird nochmal individuell fotografiert, da sie neben einer ungewöhnlichen Frisur (die meisten Damen haben lange Haare) auch ein für Alter und Elozahl sehr gutes Turnier hatte – bis auf die letzte Runde.

Ich sortiere weiter nach Turnierrelevanz:

Goryachkina konnte Girya im Endspiel überlisten – nur noch ein Punkt Rückstand auf Shuvalova. An sich hatte Schwarz ausreichende Kompensation für eine abhanden gekommene Qualität, aber dann geriet ihr Springer auf Abwege – und auch drei Bauern waren danach keine Kompensation für den gegnerischen Turm.

Gunina-Kosteniuk: beide lachen vor der Partie – Gunina macht das ohnehin oft bis immer, unabhängig von schachlicher Tages- oder Wochenform.

Danach posierte Kosteniuk, das durfte sie doch wieder ohne Maske. Zur Partie: 14.Sf6+!?? mit schwarzem Bauern auf g7, was war das denn? Planet Gunina! Schwarz gab die Figur wenig später zurück und für Engines war es kurz wieder ausgeglichen, aber im Endspiel oder damenlosen Mittelspiel bekam Kosteniuk erneut und nun definitiv Oberwasser.

Normalerweise wäre diese turbulente Partie der Höhepunkt der Runde im Damenturnier, aber da war noch Galliamova-Kashlinskaya (wurde offenbar nicht fotografiert). Weiß spielte am Damenflügel, Schwarz am Königsflügel (für norwegische Fernsehzuschauer: beide spielten an ihrem linken Flügel). Soweit so königsindisch, ebenfalls üblich dass Engines zunächst lieber Weiß hatten. Bis Galliamova mit 31.hxg4? auch am für sie rechten Königsflügel Material gewinnen wollte – bzw. das schaffte sie aber nun war der schwarze Angriff vernichtend. Im 39. Zug, also kurz vor der Zeitkontrolle, entkorkte Kashlinskaya mit 10 Restsekunden 39.-Dh1+ – das Engineurteil „!!“ kannte sie dabei nicht, im Interview hinterher verriet sie ihre Einschätzung während der Partie „hoffentlich wird das ein Dauerschach“. Aber es war undeckbar Matt, das konnten alle weissen Mehrfiguren (neben der Dame noch ein Läufer sowie potentiell – einzugsbereiter Freibauer auf a7 – noch eine Dame) nicht verhindern. Nach dem 41. Zug überlegte Galliamova eine ganze Weile, konnte sich nicht zwischen diversen Mattbildern entscheiden und gab daher sofort auf.

Das reicht für diese Runde, aber ich bleibe bei den Damen:

Runde 8 Damen:

Shuvalova-Galliamova 0-1! Es ging wieder aufwärts für die Schwarzspielerin, während Shuvalovas Vorsprung im Turnier erneut schrumpfte. Partieentscheidend war, dass Weiß mit 28.f4? taktisch einen Bauern einstellte.

Erwähnenswert vielleicht auch Galliamovas Maskenkonzept: immer griffbereit um den Hals, so kann man schnell reagieren wenn die Gegnerin beginnt zu husten und/oder zu niesen. Ob man dann schneller ist als das Virus, dazu gibt es meines Wissens keine wissenschaftlichen Studien – aber die brauchte Russland ja auch nicht für Zulassung eines Impfstoffs.

Konnte Goryachkina Shuvalova nun komplett einholen?

Nein, da es Guseva erwischte – ihr erstes (und einziges) Remis im Turnier. Gunina ist als kompromisslose Spielerin bekannt, Guseva eher nicht. Das liegt wohl daran, dass sie außerhalb von Russland generell relativ unbekannt ist – was auch daran liegt, dass sie früher Nechaeva hieß.

Gunina spielte dagegen (noch) nicht Remis, dieser Tag war für sie wie Weihnachten – daher habe ich dieses Foto mit Hintergrund ausgewählt, auch wenn sie mal nicht lächelt sondern voll konzentriert ist.

Hier ist gegen Pogonina wohl noch nicht allzu viel los, aber auch aus einer typischen Isolani-Stellung heraus kann man auf Königsangriff spielen. Das machte Gunina und spielte ihre Gegnerin schwindlig. Komplett geschwindelt hat sie dabei nicht, aber laut Engines war es mehrfach wieder ausgeglichen – aber Pogonina hat die entsprechenden Züge nicht gefunden.

Hinterher ein äußerst unterhaltsames Interview, bei dem Gunina wieder viel lachte. Es begann mit „schön dass Du da bist, Deine Partien verstehe ich gar nicht“ – Gunina: „ich auch nicht!!!“.

Da kann ich nicht auch noch Getman-Garifullina 0-1 besprechen – ebenfalls turbulent mit dem besseren Ende für die noch jüngere und in diesem Turnier insgesamt bessere Spielerin. Zurück zu den Herren:

Runde 8 Herren:

Karjakin-Svidler 1-0, warum das denn? Nicht weil Svidler es nach zuvor sieben Remisen mit Sizilianisch wissen wollte – aus Najdorf mit 6.Lg5 entstand eine Richter-Rauzer Struktur. Lange war es ein Duell auf Augenhöhe, entscheidend dabei vielleicht, dass Svidler mehr Bedenkzeit investierte: im 32. Zug patzte er in Zeitnot.

Damit konnte Karjakin, wie Goryachkina bei den Damen, den Rückstand auf die Tabellenspitze halbieren. Nepomniachtchi und Fedoseev hatte ich bereits fotografiert, Nepo überlebte mit Weiß ein etwas schlechteres Endspiel – Remis.

Ansonsten: Artemiev-Matlakov 1-0, Entscheidung ebenfalls in der Zeitnotphase: das impulsive und unnötig lockernde 38.-g5 ermöglichte eine weisse Kombi. Und Dubov überspielte mit Schwarz den mitunter aber nicht in allen Partien soliden Goganov.

Tags darauf kam es bei den Herren zum Zusammenschluss an der Spitze, bei den Damen noch nicht – wobei es auch da möglich bis wahrscheinlich bis nahezu sicher war.

Runde 9 Herren:

Dubov-Nepomniachtchi 1-0, woran lag es? Im höheren Sinne daran, dass Nepo – für ihn untypisch – einmal lange überlegte. 7.Lb5+ gegen Grünfeld war für ihn offenbar keine große Überraschung, vorläufig blitzte er weiter. Auch das von Engines befürwortete Qualitätsopfer im 16. Zug, kurz nach Dubovs Neuerung 13.d5, war vielleicht noch häusliche Vorbereitung – immerhin war der letzte Vorgänger eine Blitzpartie Nakamura-Nepomniachtchi.

Dann allerdings 20 Minuten für 19.-Da5!? – objektiv stimmt diese Zeichensetzung wohl, es war noch nicht partieentscheidend. Aber die Dame entfernte sich damit weit vom Königsflügel und ließ ihren Gemahl im Stich. Weiß gewann im Königsangriff. 19.-Ld4+ war die jedenfalls weniger riskante Alternative im 19. Zug.

Da Dubov auf dem vorigen Foto Corona-Regeln verletzt (Hand im Gesicht) und demnach nicht allzu fotogen ist, zeige ich ihn noch einmal individuell. Mit diesem Sieg war er selbst wieder im Rennen um den Turniersieg, nur noch ein halber Punkt Rückstand auf die beiden Führenden.

Das gilt bzw. galt übrigens auch für Maksim Chigaev, nicht wegen dem heutigen Remis gegen Vitiugov: in der Najdorf-sizilianischen Bauernraub-Variante betrat Vitiugov mit Schwarz im 11. Zug ziemliches Neuland (11.-Lxe6 statt dem üblichen 11.-fxe6) – was beide oder jedenfalls Chigaev so aus dem Konzept brachte, dass sie ab dem 15. Zug wiederholten. Sondern wegen 2/2 an den beiden Tagen zuvor: den kampflosen Punkt gegen Antipov hatte ich zu Recht nicht erwähnt, den Sieg gegen Artemiev hatte ich vielleicht zu Unrecht ignoriert.

Da Chigaev und Dubov tags darauf verloren, stimmt quasi doch was ich eingangs geschrieben hatte – Zweikampf um den Turniersieg zwischen Karjakin und Nepomniachtchi. Aber ich greife den Ereignissen damit voraus und beende nun den Bericht zu Runde 9 der Männer. Karjakins Anteil an seiner zu diesem Zeitpunkt erfolgreichen Aufholjagd bestand darin, dass er gegen Nimzo-Indisch mit 4.f3 diesmal besser vorbereitet war und mit Schwarz gegen Fedoseev recht locker Remis hielt. Im 5. Zug entschied er sich diesmal für den Hauptzug 5.-Lxc3+ statt 5.-Le7 gegen Nepomniachtchi.

Runde 9 Damen, Fokus zunächst Turnierrelevanz:

Grigorieva-Shuvalova 1-0 1/2: In glatter Gewinnstellung mit Mehrqualität und Mehrbauer fand G(r)i(go)ri(eva) den fast einzigen Remiszug – 60.Ke4 war zwar gut gemeint (König zentralisieren bzw. an das Geschehen am Damenflügel heranführen), aber warum nicht einfach mit dem Freibauern laufen? 60.a5 Sc6 61.a6 Sxb8 62.a7 und 63.a8D war an sich leicht zu berechnen. 60.Ke4?? erlaubte 61.-Sc5+ mit Tempogewinn, danach konnte Schwarz den weissen Freibauern einkreisen und eliminieren – Turm ohne Bauer gegen Springer war dann Remis.

Laut Tablebases hätte fast alles gewonnen, z.B. sogar das sinnfreie 60.Kg4. Es gab nur drei andere Remiszüge, am einfachsten das Qualitäts- und Bauernopfer 60.Txb4+ (den Turm geben ist nur dann sinnvoll, wenn man dafür forciert eine neue Dame bekommt) sowie 60.Td8 und 60.Te8. Warum das im Gegensatz zu anderen Turmzügen auf der achten Reihe Remis ist untersuche ich mal nicht.

Goryachkina konnte nicht direkt profitieren, gegen Kashlinskaya riskierte sie eher nichts und es wurde remis.

Noch ein Remis ist, im Gegensatz zu den zwei Partien mit Siegerin und Verliererin, erwähnenswert: Garifullina-Gunina 1/2, nun hat es auch Valentina Gunina erwischt. Dabei hatte sie sich Mühe gegeben, ein Remisendspiel zu verlieren, aber die Gegnerin war nicht einverstanden. Am Ende musste Gunina wohl oder übel Dauerschach geben. Für sie das 40. Remis bei russischen Meisterschaften – sie ist seit 2005 dabei und spielte insgesamt 164 Partien. Es gab Jahre, in denen sie vielleicht krank war und – für ihre Verhältnisse – oft Remis spielte. Es gab auch perfekte Jahre: 2014 wurde sie russische Meisterin mit 7/9 nach zu Beginn 0/2, 2016 remisfreie 6/11. Quelle Wikipedia.

Ich bleibe bei den Damen, auch wenn tags darauf bei den Herren ausnahmsweise mehr los war betrifft entschiedene Partien. Aber im Damenturnier gab es den Showdown der beiden Führenden.

Runde 10 Damen:

Shuvalova und (bei ihr recht selten) Goryachkina lachen beide, wussten sie schon was passieren würde? Hochkarätiges Schach wie zwischen Nakamura und Carlsen im Internet, und Remis nach 14 Zügen – eine bekannte Berliner Remisvariante. Nepomniachtchi kennt sie übrigens auch.

Entschiedene Partien gab es, da Gunina genug Remis gespielt hatte und mit Weiß gegen Galliamova das Nachsehen hatte. Außerdem Kosteniuk-Guseva 0-1, obwohl Weiß nach inkorrekten schwarzen Bauernopfern zunächst klar besser stand. Aber 24.f4? lief in einen taktischen Konter und stellte im Engine-Urteil fast siebeneinhalb Bauern einen, zuvor hatte Kosteniuk nur zweieinhalb Mehrbauern (zwei auf dem Brett und laut Engines etwas zusätzliche Kompensation).

Runde 10 Herren: Der Abstand zwischen einerseits Karjakin und Nepomniachtchi, andererseits den Verfolgern Dubov und Chigaev verdreifachte sich. Der mitrechnende Leser weiß, dass diese vier insgesamt 50% erzielten – 100% für die Führenden und 0% für die Verfolger.

Nepomniachtchi-Esipenko 1-0: Das Foto verrät, dass Schwarz Russisch spielte, oft wird es dann Remis aber nicht immer. Nepomniachtchi opferte mit 16.Lxh6, Esipenko verteidigte sich lange präzise. Dabei war unklar, was seine Mehrfigur war, der quasi eingesperrte Sb8 oder der dadurch auch eingesperrte Ta8. Nach Damentausch (gute Nachricht für ihn, nun war Matt weniger wahrscheinlich) wollte er doch eine aktive Figur und entschied sich mangels Alternativen für den König – 25.-Kg6 statt 25.-Kg8 oder -Kh8 war allerdings ungenau. Die Figur gab er zurück und landete in einem schlechten Turmendspiel. Das war wohl anfangs in der Remisbreite, aber später dann nicht mehr.

Chronologisch etwas später kam

Karjakin-Artemiev 1-0, ebenfalls schön und insgesamt dominanter. In der Zeitnotphase hatte Artemiev mit 37.-Sf5 – erlaubt 38.Te6 mit Tempogewinn – die gegnerische Aufgabe erleichtert.

Fedoseev-Dubov 1-0 führte auch dazu, dass der Weißspieler nun erster Verfolger wurde. Es begann mit 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 d6 (hat Carlsen etwa Dubov zum Ähm äh Schach bekehrt?) 4.c3 f5 (NEIN!). Fedoseev bezeichnete das hinterher als Unsinn („Nonsense“) mit dem er durchaus gerechnet hatte. Etwa ausgeglichen war es, bis Dubov mit 16.-Dg6? (16.-Dg5) inkorrekt eine Figur opferte. 20.Df5+ war quasi die Widerlegung. Danach schaffte Fedoseev das, was Esipenko nicht gelang: ohne große materielle Verluste den Sb1 entwickeln. Und der Drops war gelutscht.

Chigaev verlor ausgerechnet gegen den zuvor sieglosen Goganov. Dabei stand er mit Schwarz in einem „englischen Königsinder“ zunächst prima, eher besser als schlechter. Dann hat er sich offenbar verrechnet, ab dem 29. Zug ging es rapide bergab und nach 34 Zügen war Schluss.

Vier Weißsiege und immerhin anderthalb Punkte für Schwarz. Svidler gewann locker gegen Absentov (vor dem Ruhetag spielte Antipov) und hatte damit wieder 50%. Vitiugov-Matlakov 1/2 – sie kopierten, ja was eigentlich? Jedenfalls nicht Shuvalova-Goryachkina: zwar brauchten sie länger für ihre 14 Züge da beide mal inne hielten, aber die Damen spielten ja in einem anderen Raum. Vielleicht Nakamura-Carlsen, vielleicht auch Matlakov-Vitiugov, September 2020. Im Laufe der Jahre gab es dieses St. Petersburger Derby gelegentlich, mit klassischer Bedenkzeit wurde es fast immer remis. Nur zweimal gewann Vitiugov, 2005 beim Chigorin Memorial und 2002 bei der St. Petersburger U18-Meisterschaft.

Runde 11 Herren – schon früh wurde es spannend: Wird Chigaev-Nepomniachtchi remis, oder etwa doch nicht? Nepomniachtchi zierte sich und investierte fast 13 Minuten für seinen 9. Zug, dann erlaubte er die dreifache Zugwiederholung definitiv. Für Chigaev ging es quasi um Nichts mehr, hatte Nepo hier bereits bei Dubov-Karjakin vorbeigeschaut? Das war schon zu diesem Zeitpunkt unklar.

Es begann mit 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.c3 Sf6 (soweit, so Italienisch) 5.d4 exd4 6.b4!??! – kein Evans-Gambit aber so ähnlich. Karjakins 11.-h6 war laut Engines richtig, die wollen nach 12.Lh4 g5!? und sagen, dass Schwarz klar besser steht. Aber andererseits war es, nach 12.-0-0 usw., vielleicht der entscheidende Fehler: es ermöglichte das ungewöhnliche Damenopfer 19.Dxg6!!!?. Kurz danach konnte ein Endspiel mit weissem Mehrbauer entstehen, für Verteidigungsminister Karjakin womöglich haltbar, aber er wollte vielleicht mehr und bekam weniger. Zu dieser Partie könnte man noch mehr schreiben, aber der Artikel hat ja schon Überlänge.

Dubov gewann und machte Nepomniachtchi zu dem, was er vor Dubov-Nepomniachtchi 1-0 bereits mehr oder weniger war: russischer Meister. Dubov hatte damit die beiden Führenden besiegt, andererseits hatte er auch zwei nicht dumme aber Dubovsche Niederlagen – vor dem Ruhetag gegen Chigaev, in der zweiten Turnierhälfte gegen Fedoseev (s.o.). Nach Fedoseevs Remis in der Schlussrunde waren beide punktgleich, intuitiv sollte Sonneborn-Berger Dubov bevorzugen aber dem war nicht so: Fedoseev 35.5, Dubov 35 – ich habe das überprüft.

Runde 11 Damen: Die Entscheidung über den Meistertitel wurde aufgeschoben, die über Bronze fiel auf ungewöhnliche Art und Weise. Girya-Shuvalova 1/2 zeichnete sich früh ab, wobei es erst nach 61 Zügen offiziell war. Goryachkina zeigte gegen Getman Geduld und bekam allmählich Oberwasser, damit Stichkampf um den Turniersieg. Das war der eine Weißsieg, der andere war turnier-irrelevant und wird dennoch erwähnt, aber erst drei Schwarzsiege:

Galliamova-Pogonina 0-1 begann in slow motion, schon für die ersten 10 Züge brauchten beide je mehr als eine halbe Stunde. 16.f2-f4 war dann ebenso falsch wie in anderen Partien (siehe oben im Bericht) 28.f4 und 24.f4, mit 16.-b5! (was unter anderem auf der Möglichkeit -Db6+ beruht) bekam Schwarz Oberwasser und behielt es. Galliamova verpasste die Chance auf den geteilten dritten Platz, die sie zu diesem Zeitpunkt eher nicht hatte. Denn Garifullina und Guseva hatten dafür die besten Karten.

Aber beide verloren dann ihre Endspiele. Garifullina konnte gegen Kosteniuk Turm gegen Turm und Läufer nicht remis halten. Guseva spielte gegen Kashlinskaya wohl zu lange auf Gewinn, wobei Engines immer „ausgeglichen“ sagten. Im Damenendspiel musste sie dann aufpassen und im 50. Zug das stille 50.Dd7 (kein Schachgebot) finden – sie fand es nicht und ab hier stand Schwarz (Kashlinskaya) auf Gewinn, wobei es bis zum vollen Punkt noch etwas dauerte.

Damit hatten die vier im letzten Absatz genannten Spielerinnen alle 6.5/11 und wurden nach Tiebreak sortiert. Zuerst das, was sie gar nicht beeinflussen konnten – Anzahl Schwarzpartien, Vorteil Kosteniuk und Guseva. Dann Sonneborn-Berger, Vorteil Kosteniuk und das war’s dann, auch wenn der dritte und vierte Tiebreak (Anzahl Siege und direktes Resultat) Guseva bevorzugt hätte. Bronze für Kosteniuk, und das nach zu Turnierbeginn 0.5/3.

War da noch was? Ja, Grigorieva-Gunina 1-0, warum das denn? Weil ich es vorhergesagt hatte und weil Guninas Caro-Kann misslang.

Und nun mussten bzw. durften Shuvalova und Goryachkina nachsitzen:

Das Foto hatten wir so ähnlich bereits, und die erste Schnellpartie hatten wir auch schon: Mit Weiß wählte Shuvalova dasselbe Berliner Kurzremis!!?? Das verstehe wer will.

Nun hatte Goryachkina Weiß, und wieder kopierte sie Carlsen: dessen optisch hässlich-antipositionelles 1.c4 c5 2.Sc3 Sf6 3.Sf3 Sc6 4.e4!?. Schlecht ist es nicht, sehr gut ist es wenn der Gegner danach einen Fehler macht – hier und heute Shuvalovas 15.-g6?. Goryachkina bekam klar Oberwasser aber konnte den Sack nicht zumachen, irgendwann war das Turmendspiel irgendwie Remis – danach wurde es noch lange geübt aber blieb Remis.

Also Armageddon. Goryachkina hatte Weiß, Shuvalova machte im 16. Zug einen Fehler — so krass, dass er nicht mehr reparierbar war: mindestens Qualitätsverlust, in ihrer Version dann Figurenverlust.  Nach 16.-gxf6 wäre die schwarze Welt absolut in Ordnung, nach 16.-Dxf6?? war dem nicht so.

Shuvalova war danach im Video sichtbar enttäuscht, Goryachkina wirkte weder stolz noch glücklich sondern allenfalls erleichtert. Emotionen zeigt sie ohnehin selten bis nie.

Zurück zum Turnier mit klassischer Bedenkzeit: Goryachkina besiegte Spielerinnen der unteren Tabellenhälfte, davon allerdings fast alle. Sonst Remis, also ungeschlagen. Shuvalova gewann gegen drei von vier Spielerinnen auf dem geteilten dritten Platz, dafür war sie gegen die untere Tabellenhälfte weniger effizient.

Für Goryachkina war es im noch jungen Alter bereits die achte Turnierteilnahme und der dritte Meistertitel. So pragmatisch wie diesmal spielte sie auch 2019 (+4=7, ein halber Punkt zu wenig für Stichkampf um den Titel), zuvor eher nicht: 2018 war 7/11 (+6=2-3) auch ein halber Punkt zu wenig, noch ein Jahr eher war 7/11 (+5=4-2) genug für Erreichen des Stichkampfs gegen Pogonina, den sie dann gewann. 2016 hatte sie ein schlechtes Turnier, kann passieren. 2015 wie diesmal 8/11, das war der Meistertitel mit einem Punkt Vorsprung – dank Siegen auch gegen die obere Tabellenhälfte.

Shuvalova ist noch jünger, aber auch für sie war es bereits die vierte Teilnahme an einer russischen Meisterschaft – wobei sie zuvor immer in der unteren Tabellenhälfte landete.