April 19, 2024

Russland gewinnt, Indien protestiert, Russland und Indien gewinnen

Gerade hatte ich die ersten Sätze zum Artikel geschrieben, einschließlich „es wäre absurd, wenn der indische Protest akzeptiert wird, nachdem zuvor der armenische abgelehnt wurde (Indien profitierte im Viertelfinale)“. Und schon gibt es neue Entwicklungen: der indische Protest wurde akzeptiert, offenbar von Dvorkovich persönlich – beide Teams wurden zu Siegern erklärt, die 12 Partien des Finales sind irrelevant. Ist das das letzte Wort, oder kann Russland dagegen protestieren, dass der indische Protest akzeptiert wurde? Kann Armenien nun nochmals protestieren? Kann Deutschland protestieren, dass nullkommadrei fehlende Sekunden für Dennis Wagner höhere Gewalt waren? FIDE sagte auf Twitter „More details & an official statement to follow“ – nur zum Finale.

Das Titelbild hatte ich zu einem Zeitpunkt ausgewählt, als Russland alleine gewonnen hatte – Quelle russischer Schachverband. Es stammt zwar aus dem Halbfinale gegen die USA, aber die „Atmosphäre vor Ort“ war im Finale wohl ähnlich. Nepomniachtchi spielte allerdings zu Hause – freiwillige oder notwendige Corona-Quarantäne? – und hatte nur per WhatsApp Kontakt mit seinen Teamkollegen.

Das erste Match endete unentschieden – das passiert, wenn keine(r) gewinnt und demnach niemand verliert. Das zweite Match endete zunächst 4.5-1.5 für Russland, laut neuester Version der Turnierseite 2.5-1.5 für Russland bei zwei offenen Partien (die aber nicht fortgesetzt werden). Da steht nun auch ein kurzes Statement von Dvorkovich, aber ich bespreche erst das schachliche Geschehen. Muss das noch sein? Nun, die Partien werden wohl in Datenbanken aufgenommen, und einige waren auch eröffnungstheoretisch relevant – selbst in Eröffnungen, die Teil meines eigenen Repertoires sind.

Das erste Match: Wie bereits angedeutet, sechs Remisen – das musste nicht unbedingt sein, in ein bis zwei Partien konnte Indien gewinnen. Ich beschränke mich dann auch auf diese Grünfeld-Theorieduelle. Aber erst ein paar Worte zu den Aufstellungen: bei Indien fehlte Anand, Russland hatte sich an den Damenbrettern gegen Goryachkina entschieden. Für die Livekommentatoren war beides logisch: Internet-Schach ist für junge Leute, aber man sollte es auch nicht übertreiben – Goryachkina ist weniger erfahren als Lagno und Kosteniuk.

Da ich Lagno bereits erwähnt habe und im Sinne von „Ladies first“ beginne ich mit ihrer Partie gegen Humpy Koneru. Wie gesagt, Grünfeld und bis zum 15. Zug bekannte Theorie – einschließlich schwarzem Qualitätsopfer, das aber offenbar nie zuvor angenommen wurde. Nun war es soweit, und nach einer weiteren Abwicklung hatte Koneru zwei Türme für die gegnerische Dame. Im Prinzip leicht besser für Weiß mit den Türmen, aber nur leicht besser. Im weiteren Verlauf stand Weiß nach gegnerischen Ungenauigkeiten klar besser bzw. gewonnen. Aber dann leistete sich auch eine Ungenauigkeit, Ergebnis war Dauerschach.

Bei Vidit-Nepomniachtchi wurde ein anderes Grünfeld-Abspiel diskutiert, bekannt vor allem aus Schwarzpartien eines gewissen Ian Nepomniachtchi. Da opferte Schwarz zunächst nur einen Bauern. Nach Vidits Neuerung im 17. Zug überlegte Nepo, und im 24. Zug holte er sich den Bauern zurück. Das gibt es mitunter, hier kostete 24.-Txf2!?? allerdings einen Turm. Engines glauben zunächst gar nicht an das schwarze Konzept, später sind sie sich nicht mehr ganz sicher. Weiß hatte zwei Möglichkeiten für etwas Vorteil: 25.Kxf2 und dann, im Gegensatz zur Partie, mit dem König nach h4 wandern. Schwarz bekommt eine Figur zurück, nur eine Qualität weniger – das kennen Grünfeld-Spieler, und vielleicht reicht die Kompensation aus, vielleicht auch langfristig nicht. Oder 25.c5!?, was dann zu einer Stellung mit aus weisser Sicht zwei Türmen für die Dame führt. Wie gesagt, in der Partie nahm Vidit den Turm und begab sich dann mit seinem König nach a1. Da stand er unsicher, Schwarz hatte mit Minusturm Mattdrohungen, Weiß hatte Dauerschach – nicht mehr und nicht weniger.

Das zweite Match: Wieder zunächst zu den Aufstellungen – Indien nun mit Anand (wollte Vishy nur mit Schwarz spielen?), Russland mit Goryachkina (statt der zuvor entwischten Lagno). Dass sich bei Indien die Junioren Nihal Sarin und Praggnanandhaa abwechseln war bereits bekannt. Für Russland spielte vorne neben Nepomniachtchi nun Dubov statt zuvor Artemiev. Grischuk und damit auch sein T-Shirt „strange illusions curious incidents“ fehlte in beiden Matches – noch konnte niemand ahnen, dass es gut gepasst hätte.

Drei Remispartien Nepo-Anand, Vidit-Dubov und Harika-Kosteniuk sind hiermit erwähnt. Eröffnungstheoretisch am relevantesten war Esipenko-Nihal Sarin. In einem komplexen englischen Abspiel war 9.Sa4 nicht der Hauptzug – bald überlegte Nihal Sarin (obwohl er das schon einmal hatte, allerdings mit Weiß). Esipenko machte Druck, den Schwarz jedoch neutralisierte – Weiß fand nicht immer den besten Zug. Im Prinzip war das Endspiel nun remislich, aber Nihal Sarin überschritt die Bedenkzeit.

Dasselbe machte wenig später Divya Deshmukh am Juniorinnenbrett. Dabei stand sie sehr vielversprechend. Um die Partie tatsächlich zu gewinnen, hätte sie wohl irgendwann realisieren müssen, dass man im königsindischen Angriff auf h6 hineinopfern kann – zuvor ließ sie mehrere Chancen ungenutzt.

Damit war das Match (das zweite und damit beide) entschieden, bis Dvorkovich anders entschied. Goryachkina-Koneru lief allerdings noch. Ab dem 15. Zug hatte Weiß einen Freibauern (Oktopus) auf d6. Ab dem 31. Zug hatte sie laut Engines klaren Vorteil, da Schwarz den Dosenöffneer 31.a5! erlaubte, nach 88 Zügen lautete das Ergebnis 1-0.

Dann protestierte Indien und war damit erfolgreich. Das neue Ergebnis – Gold für beide Teams – wurde zunächst auf Twitter verkündet, später das offizielle Statement von Dvorkovich, u.a. : „Die Online Schach-Olympiade litt unter einem globalen Internet-Aussetzer. Einige Länder waren schwer betroffen, darunter Indien. Zwei der indischen Spieler verloren ihre Internet-Verbindung, zu diesem Zeitpunkt war das Match noch nicht entschieden. … ohne eine einstimmige Entscheidung [des Appeals Committee] und angesichts dieser unerwarteten Umstände habe ich als FIDE-Präsident entschieden, beiden Teams Goldmedaillen zu geben.“

Ein weltweiter Internet-Aussetzer, von dem ein Land wie Indien betroffen ist, ist selbstverständlich gravierender als ein lokaler Aussetzer in einem kleinen Land wie Armenien. Auf Twitter gab es jede Menge Reaktionen, selbst chess24 hat die Olympiade auf einem konkurrierenden Server entdeckt – der Vollständigkeit und der Fairness halber: sie hatten das Finale da angekündigt, bevor unerwartete Umstände eintraten. Von ihnen gesammelte Reaktionen waren gemischt: Inder waren zufrieden und stolz, neben Russen (Nepomniachtchi und Kosteniuk) war auch Levon Aronian nicht so begeistert. Wobei er seinen George Orwell nicht kennt: „I guess like always some of are less disconnected that the others #1984“ – das („some are more equal than others“) stammt aus Animal Farm! Neutrale Quellen waren ebenfalls gemischt.

Schon vor all diesen Entwicklungen sagten die Livekommentatoren, dass die Online-Olympiade ganz ganz toll war. Toll war, dass Teams nicht in Bestbesetzung spielen durften, noch toller waren die ganzen Armageddons. Wie geht es weiter? Eine Neuauflage dieses Turniers ist ohnehin unwahrscheinlich – wenn es das doch geben sollte, dann wohl im selben Format, denn das war laut den Livekommentatoren einfach klasse. Um Unklarheiten, Überraschungen und Verwirrungen zu vermeiden sollte allerdings vorab im Regelwerk geklärt werden, für welche Teams/Länder ein disconnect welche Folgen hat. Vorab war nur klar, dass die USA sich keine Sorgen machen mussten – denn dann würde das neutrale chess.com sagen „sorry, war unsere Schuld“.

Da Fotos in Corona/Internet-Zeiten generell Mangelware sind, reiche ich noch zwei nach:

Ein kompletteres Foto des russischen Teams vom russischen Schachverband (aber auch hier fehlen einige, nicht nur Nepomniachtchi)

Die All India Chess Federation hat offenbar keinen Fotografen, daher ein zusammen-kopiertes (dabei komplettes) Teamfoto.