April 20, 2024

Praggnanandhaas Turniersieg – Ursachenforschung

Jubelarien sind leicht und schnell geschrieben, wer nicht mehr will muss nicht weiter lesen. Ich betreibe immer auch Ursachenforschung, kurz gesagt: es war der K-Faktor, Korobov und Khartikeyan waren kooperativ.

Aber zunächst nochmals der Endstand des Xtracon Opens: Praggnanandhaa 8.5/10, Tari, Sargissian, Postny, Sevian, Rasmussen 8 und dann sechzehn Spieler mit 7.5/10 – darunter die Mitfavoriten Svane, Korobov, Grandelius, Hammer und Moiseenko (nach Wertung sortiert, Moiseenko hatte eine deutlich schlechtere), aus Deutschland außerdem Dmitrij Kollars und mit schlechtester Wertung Frank Sawatzki (für ihn natürlich auch das ein Erfolgserlebnis), wie Sawatzki unerwartet weit oben aus Indien die Praggnanandhaa-Schwester WGM Vaishali und ein gewisser CM Bharath Subramaniyam (*2007). Weit unter den Erwartungen blieben dagegen z.B. der an 7 gesetzte Igor Lysyj und der an 19 gesetzte Jan Timman – Platz 47 und 50, zwei bzw. drei Niederlagen gegen Nicht-GMs.

Zum Turnierverlauf: Nach vier Runden hatten noch 13 Spieler(innen) 100%. Die GMs unter ihnen hatten bis dahin Pflichtaufgaben gelöst, drei Nicht-GMs besiegten bereits nominell bessere Gegner. IM Kassa Korley, die dänische optische Antwort auf früher mal Nils Grandelius, zerlegte mit Schwarz den Ukrainer Moiseenko. Martin Percivaldi, ebenfalls dänischer IM, profitierte von einem Timman-Lapsus. Die an 64 gesetzte Russin WIM Tomilova hatte mit Rasmussen und (der andere Altmeister) Hjartarson bereits zwei GMs besiegt. Alle drei konnten dieses Tempo dann erwartungsgemäss nicht durchhalten. Am ryhtmischsten spielte Percivaldi: ab sofort mit Schwarz verlieren und mit Weiß gewinnen – lag vielleicht auch daran, dass er im Auf und Ab des Schweizer Systems mit Schwarz weitere GMs bekam und mit Weiß CMs und FMs. Korley machte es gegen weitere GMs besser, bei vier Remisen nur eine Niederlage plus Sieg gegen FM Buchal, zur GM-Norm fehlte offenbar ein kleines bisschen (TPR 2595). Es reichte doch, wenn man nur Runde 2-10 berücksichtigt. Denselben (regelkonformen) Trick brauchte auch Praggs Schwester Vaishali, bei ihr war es damit eine Punktlandung – TPR 2601. Vincent Keymer hatte übrigens in der letzten Bundesligasaison TPR 2599, und das ist weniger als 2600.

Nicht alle GMs hatten alle Pflichtaufgaben gelöst, z.B. gab Svane bereits in Runde 3 ein Remis ab – gegen Svane:

Im Bruderduell versuchte Rasmus (links) gegen Frederik zwar einiges bis alles, aber es reichte nicht. Alle Fotos von der Turnierseite – Freja Svane (Elo 1600) wurde übrigens auch fotografiert, spielte aber nie an den Livebrettern.

In Runde 5 dann an den Spitzenbrettern viele Remisen, nur Sargissian und Vocaturo sowie ihre Gegner Christiansen und Percivaldi machten da nicht mit, die zuerst genannten hatten nun 5/5.

Praggnanandhaa bestand den ersten GM-Test mit Remis gegen Aryan Tari, wobei er im Endspiel womöglich mit diesem Ergebnis entwischte.

In Runde 6 waren sich Sargissian und Vocaturo nach 19 Zügen remiseinig – geschoben war es dabei eher nicht, aber nach einem schottischen Geplänkel sahen offenbar beide keine Alternative zur Zugwiederholung. Zwei konnten so zur Spitze aufschließen, und zwar der Russe GM Kryakvin (sonst vor allem als Journalist aktiv) mit Sieg gegen Jon Ludvig Hammer und Pragg mit Sieg gegen Korobov. Praggs Sieg wurde hier als „sehenswert“ bezeichnet, nun ja: vielleicht war es sehenswert, wie Korobov im Endspiel Selbstmord beging. Durchaus nachvollziehbar, dass er Varianten nicht sah, in denen er seinen Läufer für den gegnerischen a-Freibauern opfern konnte mit Remisausgang, aber warum gönnte er seinem jungen Gegner mit 45.a4 und 46.axb5 ebendiesen später partieentscheidenden Freibauern? Vielleicht hat Pragg das Zeug zum Weltmeister, mitunter verlieren Carlsens Gegner in diesem Stil gegen den Norweger.

Speziell für Schachfreund Arcturus – wer auch immer sich dahinter verbirgt – zwei Diagramme:

Das ist Korobov-Praggnanandhaa vor 45.a4 a5 46.axb5 Kxb5. Für Engines war erst 47.Lg6? der entscheidende Fehler (47.Ld3+ und nun ist 47.-Kb6 48.Lc2 Zugwiederholung, 47.-Ka4 führt u.U. zu den angedeuteten Varianten, in denen Weiß später seinen Läufer für den a-Bauern aufgibt und so Remis hält). Es folgte 47.-a4 48.Ld3+ (zu spät) 48.-Ka5 und drei Züge danach gab Korobov auf.

Und nun gut sechs Jahre zurück zum Londoner Kandidatenturnier 2013, wer erinnert sich noch? Das Undenkbare schien möglich – nicht Carlsen sondern Kramnik qualifiziert sich für (bei ihm noch) ein WM-Match gegen Anand. Zwei Runden vor Schluss hatte er einen halben Punkt Vorsprung, in der vorletzten Runde war er nahe am Sieg gegen Gelfand, dann wurde das doch remis. Derweil zog Carlsen gegen Radjabov in einem Remisendspiel hin und her und wartete auf einen gegnerischen Fehler.

So stand es nach 63 Zügen – schon lange zuvor sagten die Kommentatoren, dass Weiß tunlichst auf a3-a4 verzichten sollte. Und nun kam „natürlich“ 64.a4?! Auch hier war das nicht der entscheidende Fehler, der kam etwas später – aber auch in diesem Leichtfigurenendspiel schien erst nach a3-a4 denkbar, dass die Partie nicht remis endet. Im Laufe der Jahre wahrlich nicht das einzige Geschenk, das Carlsen bekam, aber vielleicht immer noch das wichtigste seiner Schachkarriere. Radjabov sagte hinterher tatsächlich „wenn ich schon verlieren muss, dann jetzt – so wird es in der letzten Runde spannend“ – wäre es auch gewesen, wenn Kramnik weiter die Nase vorn gehabt hätte. In der letzten Runde verloren dann beide, Carlsen und Kramnik, und der Norweger profitierte von umstrittenen Tiebreak-Regeln.

In Runde 7 gewann Pragg ein Endspiel gegen Vocaturo, nun ohne offensichtliche gegnerische Hilfe. Sargissian und Kryakvin remisierten, also lag der Inder erstmals alleine vorne. Noch ein Inder hatte in dieser Runde ein Erfolgserlebnis: Bharath Subramaniyam, da Rasmus Svane seinen eigentlich siegreichen Angriff nicht sauber zu Ende spielte. Statt die investierte Figur erst einmal bei anhaltendem Angriff zurück zu erobern, verhedderte er sich und hatte komplett das Nachsehen.

In Runde 8 fand die Spitzenpaarung Andersen-Praggnanandhaa nicht wirklich statt, Remis nach 24 Zügen. Zwei konnten wieder aufschliessen: Tari zerlegte Bharath Subramaniyams Sizilianer, Sargissian profitierte im Endspiel von einem groben Fehler des Dänen GM Sune Berg Hansen, der Tablebases offenbar am Brett nicht reproduzieren konnte – das schaffen auch Weltklassespieler nicht immer.

In Runde 9 war am Spitzenbrett Sargissian-Tari nach 21 Zügen Remisschluss, 5.h4 gegen Grünfeld verflachte irgendwie schnell. Auch Brett 2 Praggnanandhaa-Karthikeyan schien (nach Zügen) zu diesem Zeitpunkt recht remislich, aber Karthikeyan wollte vielleicht mehr und bekam weniger. Statt Ausgleich anzustreben verknotete und deplazierte er seine Figuren am Damenflügel – dafür gab es keinen Schönheitspreis, keinen Hässlichkeitspreis und auch keinen (halben) Punkt.

Eine Runde gab es noch, bei Opens eher selten (neun Runden ist üblicher), und wieder lief es am Ende nach Wunsch für Praggnanandhaa. Verfolger Aryan Tari, der bei Punktgleichheit die bessere Wertung hätte, hatte eine starke Angriffsstellung gegen Allan Stig Rasmussen. Aber plötzlich vergab er seinen gesamten Vorteil (Engineurteil +4.5), und kurz danach war es Remis. Dieses Ergebnis reichte Pragg nun für den alleinigen Turniersieg, wobei es noch eine Weile dauerte.

Gegner Sam Sevian versuchte, einen Mehrbauern im Damenendspiel zu verwerten – wohl nicht nur, um sich für die Niederlage früh im Turnier gegen Praggs Schwester zu revanchieren, sondern auch weil er im Falle des Falles alleiniger Turniersieger wäre. Pragg wurde für seine zähe Verteidigung gelobt, ich sehe es so: wenn es da einen Gewinnweg gibt und der Gegner findet ihn, dann ist man machtlos. Viel falsch machen konnte der Verteidiger nicht, zumal er Damentausch nicht befürchten musste. Ob es einen Gewinnweg gab, da bin ich überfragt – am Ende erlaubte Sevian ein gegnerisches Dauerschach.

Ist ein halber Punkt Vorsprung „souverän“ oder gar „erstaunlich souverän“? Mag sein, Glück spielte dabei durchaus eine Rolle.

Was bleibt sind Bilder, aus Zeitgründen nur eine Spielergalerie im Hochformat:

Und zum Schluss noch der Turniersaal:

Bzw. einer von mehreren Räumen, über die die vielen Teilnehmer verteilt wurden.

Wie es mit Praggnanandhaa weitergeht, wird die Zukunft zeigen.